Montana 04 - Vipernbrut
Bewusstsein in eine der hintersten Ecken ihrer Seele gedrängt, um Einsamkeit und Verzweiflung in Schach zu halten. Beschwichtigt durch die Tatsache, dass sie »das Richtige« getan hatte, dass er »besser bei einer intakten Familie, die ihn liebte« aufgehoben sei, hatte sie ihr Leben weitergelebt, ohne sich mit ihren eigenen Gefühlen zu befassen. Stattdessen hatte sie sich zunächst auf die Schule und anschließend auf die Arbeit konzentriert.
Bis heute.
Bis sie dem Jungen begegnet war und herausgefunden hatte, dass es ihm alles andere als gut ging. Er steckte bis über beide Ohren in Schwierigkeiten.
Es war nicht nötig, irgendetwas zu erklären, keine Zeit für Gespräche. Sie schloss die Tür hinter O’Keefe und ging Hand in Hand mit ihm die schmalen Stufen hinauf, er einen Schritt hinter ihr. Im Schlafzimmer zerrten sie sich gegenseitig die Kleidung vom Leib und fielen zusammen aufs Bett. Dort blendete sie ihren ganzen Frust, ihren geballten Schmerz aus und gab sich seinen Liebkosungen hin, verschloss sich dem, was hätte sein können, und verlor sich im Duft und den Berührungen dieses Mannes.
Liebte sie ihn wirklich?
Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, als seine Lippen die ihren fanden und langsam ihren Hals abwärts glitten.
Sie wusste es nicht, doch sie fühlte sich bei O’Keefe sicher.
Beschützt vor der Welt da draußen.
Beschützt vor ihren eigenen Dämonen.
Später war sie in seine Arme gekuschelt eingeschlafen und nach einiger Zeit mit einem verspannten Nacken hochgeschreckt. Ihr Alptraum war wiedergekehrt und hatte sie jäh in die Realität zurückgeholt. Nun, stellte sie ernüchtert fest, eine Liebesnacht schaffte es eben doch nicht, die Welt zu verändern. Nein, die Erde drehte sich immer noch um die Sonne, und das Böse, das diesen Teil von Montana heimgesucht hatte, löste sich nicht einfach in Luft auf. Im Gegenteil, es verfolgte sie bis in ihre Träume.
Sie hatte sich einem gesichtslosen Killer gegenübergesehen, einem riesigen, flinken Monster mit langen, scharfen, bluttriefenden Klauen, das Jagd auf sie machte. Sie war gerannt, so schnell sie nur konnte, hatte keuchend nach Luft geschnappt, doch ihre Beine waren wie aus Blei gewesen, ihre Furcht nahezu greifbar. Gabe war ihr ebenfalls erschienen, und er war in Gefahr gewesen, hatte sie angeschnauzt, sie wäre nicht seine echte Mutter, und damit die Aufmerksamkeit des Mörders geweckt. »Nein!«, hatte sie geschrien, als das Monster ihren Jungen ins Visier genommen hatte, dann war sie aufgewacht. O’Keefe hatte etwas im Schlaf gemurmelt und sich umgedreht. Sein Haar hob sich dunkel von ihrem weißen Kopfkissenbezug ab.
Sie stand auf, warf sich ihren Morgenmantel über und schlüpfte in ihre Hausschuhe, danach schlich sie leise die Treppe hinunter.
O’Keefe, der tief und fest schlief, regte sich nicht, genauso wenig wie Mrs. Smith, die sich neben seinem Kopf zu einem kleinen Ball zusammengerollt hatte.
Ohne das Licht anzuschalten, trat sie an die Schiebetür im Wohnzimmer und blickte hinaus in die verschneite Dunkelheit. Es war früher Morgen, die Dämmerung war noch nicht angebrochen. Düstere Wolken verdeckten die Sterne, nur das grelle Weiß des Schnees brachte ein wenig Helligkeit.
Sie dachte an die Frauen, die man schon gefunden hatte, und an die, die noch vermisst wurden. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Ohrring in Lissa Parsons’ Brustwarze und den silbernen Stecker in Lara Sues Zunge. Der Killer wollte ihr offensichtlich eine Nachricht übermitteln.
Was um alles in der Welt mochte das mit ihrem Sohn zu tun haben?
»Wer bist du, du perverser Kerl?«, flüsterte sie. Ihr Atem beschlug die Scheibe. Unbehaglich fragte sie sich, ob er irgendwo außerhalb ihres Blickfelds stand, in der Dunkelheit verborgen, und sie beobachtete. Es musste einen Grund dafür geben, dass er ausgerechnet ihre Schmuckstücke verwendet hatte, und sie dachte an all die Kriminellen, die sie überführt und hinter Gitter gebracht hatte; die Brutalsten von ihnen waren oft für lange Jahre ins Gefängnis gewandert.
Oder ging es um etwas Persönliches?
Steckte vielleicht ein Mann dahinter, den sie abgewiesen hatte?
Jemand, den sie beleidigt hatte?
Junior Green saß Gott sei Dank wieder hinter Schloss und Riegel, doch es gab noch so viele andere. Nicht alle hatten ihr so lautstark gedroht wie er, aber genau die waren oftmals die Gefährlichsten.
Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie an all die sadistischen Mörder dachte, die sie festgenommen
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