Montana 04 - Vipernbrut
zusammen-wuchs und ihm seine Frau allem Anschein nach endlich vergeben hatte.
Er senkte den Kopf. »Herr im Himmel, verleihe mir Kraft. Lass mich nie wieder der Versuchung erliegen. Bitte, Allmächtiger, führe mich. Gib mir Stärke. Dafür bete ich in Jesu Namen. Amen.« Er stieß einen langgezogenen, zittrigen Seufzer aus und hoffte auf göttliche Unterstützung.
Doch sie sollte ihm nicht zuteilwerden.
Die Musik nahm ihn gefangen.
Sanft. Melodisch. Instrumentalversionen von Weihnachtsliedern und klassische Weihnachtsstücke. Heute wollte er nichts Seichtes oder Pietätloses hören. Er wollte die Frömmigkeit spüren, die sich in diesen Klängen offenbarte, welche seine Werkstatthöhle füllten und in seinem Herzen nachhallten.
Gott sei Dank hatte sich sein neues Modell endlich beruhigt. Er durfte sich nicht länger von dem Gestöhne der Frau ablenken lassen. Sie flehte ihn jetzt nicht mehr an, sie gehen zu lassen, schien sich in ihr Schicksal ergeben zu haben, so dass er wieder in der Lage war, sich zu konzentrieren.
Während er Wasser über die Frau schüttete und fasziniert zusah, wie sich Eisschichten über ihrem nackten Körper bildeten, verspürte er jene uneingeschränkte Zufriedenheit, die einen nach einer gut ausgeführten Arbeit überkommt. Ihre Haltung war perfekt, die Beine waren gebeugt, als würde sie knien, der Kopf gesenkt, die Hände zum Gebet gefaltet. Das war schwierig gewesen.
Die widerspenstigen Körperteile in genau die richtige Position zu bringen hatte Kraft, Geduld und ein geübtes Auge erfordert. Er hatte aufpassen müssen, dass Zehen, Finger und Rücken genau richtig lagen, bevor er sie in Eis fasste. Jetzt, während das Wasser den Körper umspülte und langsam gefror, blickte er zu seinem Schreibtisch hinüber, den er aus einer groben Werkbank gefertigt hatte. An der Korktafel, die er darüber befestigt hatte, hingen Dutzende Fotos von knien-den Frauen. Er hatte fünf Skizzen von Betenden vergrößert, alle aus unterschiedlichen Blickwinkeln, um sicherzugehen, dass sein Werk vollkommen wurde.
O ja.
Er grinste, als er sein neuestes Modell betrachtete. Es blickte ernst, versonnen, wirkte fromm und beinahe entrückt. Ja … ja, das war es, wenngleich noch Stunden der Arbeit vor ihm lagen, in denen er Eisschicht um Eisschicht würde hinzufügen müssen, bevor er mit der mühsamen Schnitzerei beginnen könnte, doch wenn das geschafft war, wäre diese Skulptur ein wahres Meisterstück und völlig anders als die erste. Selbstverständlich hatte er Talent, etwas anderes zu behaupten wäre schlichtweg falsch, doch seine Begabung war nicht nur besonders, sondern einzigartig. Wenngleich auch dieses Werk seine Handschrift trug, so glich doch keine Skulptur der anderen. Die erste gefrorene Frau hatte die Arme erhoben, die Handflächen zur Decke der Höhle gerichtet. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war freudig, ein breites Lächeln war durch das Eis zu sehen, und sie hatte die Augen weit geöffnet.
Sie war bereit, ausgestellt zu werden.
Bei dieser Aussicht verspürte er ein aufgeregtes Kribbeln. Er wusste schon, wo er sie platzieren würde.
Mit dieser ersten Skulptur wollte er den heiteren, leicht abgeschmackten Aspekt der Weihnachtsfeiertage darstellen, wofür sie sich perfekt eignete. Doch er durfte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen, o nein. Niemals. Seine Schaffenszeit war auf die kalten Wintertage begrenzt, daher durfte er jetzt nicht nachlassen.
Er musste ihnen beweisen, welch große schöpferische Vielfalt in ihm steckte, das verstand sich von selbst. Deshalb hatte sein neues Stück, Skulptur Nummer zwei, wie er sie in Ermangelung eines besseren Namens schlicht nannte, ein ernsteres Ansinnen: Sie sollte Andacht verkörpern. Frömmigkeit. Pure Ergebenheit.
Er bezweifelte, dass jemand seinen Drang nach Perfektion verstand, die so sorgfältig ausgearbeiteten Feinheiten, doch solange er selbst die Tiefe seiner Hingabe und seines Talents erkannte, war ihm das egal.
Während er den »Tanz der Zuckerfee« aus dem Nussknacker mitsummte, fühlte er sich aus tiefster Seele inspiriert. Ihm blieben nur noch ein paar Stunden, um sein Werk zu vollenden, da durfte er sich keine Fehler erlauben.
Er lächelte.
Er machte keine Fehler.
Natürlich nicht.
Das hatten Gott und er einfach gemeinsam.
Kapitel fünf
Du bist eine solche Schwindlerin!«, beschuldigte Alvarez Pescoli, als sie den steilen Hügel hinabfuhren, der den älteren Teil der Stadt vom neueren trennte. Die Gebäude in der
Weitere Kostenlose Bücher