Montana 04 - Vipernbrut
er keine Antwort bekam, erhob er sich, ging einen kurzen Flur entlang, öffnete eine Tür und bellte ein paar knappe Befehle, bevor er wieder auftauchte und sich in seinen Sessel vor einem riesigen Flachbildfernseher fallen ließ.
Er hatte ein Alibi für die Nacht, in der seine Ex-Frau verschwunden war. Obwohl es ihm offenbar nicht wirklich leid-tat, dass Brenda vermisst wurde, wirkte er doch schockiert.
»Sie sollte vorsichtiger sein«, murmelte er, griff in die oberste Schublade eines kleinen Beistelltischchens und holte eine Schachtel Zigaretten hervor. Als er feststellte, dass sie leer war, stieß er einen unterdrückten Fluch aus und zerknüllte sie. »Das sage ich ihr ständig.«
»Warum?«, erkundigte sich Alvarez.
»Weil sie die Mutter meiner Kinder ist, deshalb!« Bei der Erwähnung seiner Sprösslinge blickte er mit gerunzelter Stirn den Flur entlang, dann fragte er Alvarez: »Sind wir hier fertig? Ich muss die Jungs zur Schule bringen.«
»Es könnte sein, dass wir später noch einmal auf Sie zurückkommen.«
»Ja, ja. Das ist schon in Ordnung.« Er stand auf und stapfte Richtung Schlafzimmer, während sich Alvarez und Pescoli verabschiedeten.
Vielleicht hatte Sandi recht, dachte Alvarez jetzt. Ray Sutherland, ein Lastwagenfahrer, hatte ihnen heute Morgen womöglich eine oscarreife Vorstellung geliefert, doch wenn sie ehrlich war, bezweifelte sie das.
Während Pescoli ihren Burger mit Pommes frites in sich hineinschaufelte, stocherte Alvarez in ihrem Feldsalat und der Garnelencremesuppe. Der Fall ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.
»Ich verstehe nicht, wie du von dem Zeug leben kannst«, sagte ihre Partnerin und deutete mit einer Fritte, die sie anschließend durch die Riesenpfütze Ketchup auf ihrem Teller zog, auf Alvarez’ Essen.
»Dito.«
»Ich glaube nicht, dass Ray Sutherland unser Mann ist.« Sie steckte sich die Fritte in den Mund.
»Wenn es denn einen Mann gibt.«
»Stimmt. Wenn es denn einen Mann gibt. Könnte ja sein, dass sich die drei Frauen einfach aus dem Staub gemacht haben. So was soll vorkommen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Nein. Das glaube ich nicht. Bloß gefallen mir die anderen Möglichkeiten gar nicht.« Sie dachte ein paar Minuten nach, während sie einen letzten Bissen von ihrem Burger nahm und den Rest auf den Teller warf.
Sie teilten sich die Rechnung, und Alvarez schlüpfte schon in ihren Mantel, als sie bemerkte, dass Pescoli die Augen zusammenkniff. »Oh, oh«, flüsterte sie.
»Was ist?« Selena wandte sich um und erblickte aus den Augenwinkeln Grace Perchant, die eben zur Tür hereinspazierte.
»Da kommt die Verrückte«, murmelte Pescoli.
Wenn Grace ihre Bemerkung gehört hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. Dünn und bleich, gekleidet in einen langen weißen Mantel, der um sie herumzuwogen schien, schritt Grace langsam, aber zielstrebig auf ihren Tisch zu. Ihre blassgrünen Augen waren mit unglaublicher Entschlossenheit auf Alvarez gerichtet.
»Detective Alvarez«, sagte sie mit gesenkter Stimme.
»Ja?«
Fast wie in Trance griff Grace nach Alvarez’ Hand. Diese bemerkte flüchtig, dass Pescolis Hand zu ihrer Waffe fuhr. Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln gab sie ihrer Partnerin zu verstehen, dass sie sich zurückhalten solle. Sie war nicht in Gefahr.
»Was gibt’s, Grace?«, fragte sie freundlich.
»Ihr Sohn braucht Sie.«
»Wie bitte? Ich habe keinen Sohn.«
Der Druck von Graces Fingern wurde fester. »Er ist in ernster Gefahr.«
»Wovon reden Sie? Ich habe keinen Sohn.« Ihre Blicke trafen sich.
»Er braucht Sie«, wiederholte Grace, dann, als hätte sie plötzlich gemerkt, wie unangenehm ihr die Situation war, zumal die Leute an den umliegenden Tischen aufgehört hatten zu essen, ließ sie Alvarez’ Hand so schnell los, wie sie sie ergriffen hatte, und verließ hocherhobenen Hauptes das Restaurant.
Pescoli schnaubte. »Wie ich schon sagte: völlig durchgeknallt.«
»Da hast du recht.« Alvarez lächelte schwach und zog ihre Handschuhe an.
Sandi kam herbeigeeilt. »Du meine Güte, das tut mir leid«, sagte sie. »Grace ist ein bisschen durcheinander, das weiß ich, aber für gewöhnlich hält sie Distanz.«
»Zerbrechen Sie sich deshalb nicht den Kopf«, sagte Alvarez und war bereits auf dem Weg zur Tür. »Das war doch keine große Sache.« Was natürlich eine Lüge war. Eine weitere Lüge. Innerlich bebend spürte sie, wie der altbekannte Schmerz von ihr Besitz ergriff, doch sie wollte sich nicht damit
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