Montana 04 - Vipernbrut
Parsons.
Brenda Sutherland.
Oder wie wahrscheinlich war es, dass sich alle drei aus dem Staub gemacht hatten, ohne ein Sterbenswörtchen, ohne jede Spur?
Alvarez konnte sich das nicht vorstellen, Vorweihnachtsstress hin oder her.
Tief im Herzen wusste sie: Grizzly Falls wurde erneut heimgesucht. Ein neues Monster lag auf der Lauer.
Aber wo waren die Opfer?
»Sie müssen mich gehen lassen, bitte!«, flehte Brenda den Wahnsinnigen an, der sie hier in dieser Eishöhle Gott weiß wo festhielt; vermutlich irgendwo in den Gebirgsausläufern um Grizzly Falls, doch sie war sich nicht sicher. Leise Musik war zu hören und das Geräusch von tropfendem Wasser, Feuchtigkeit hing in der Luft. Sie befand sich in einem höhlenartigen Käfig mit einer Liege darin, auf der ein Schlafsack lag, und einem Eimer, der ihr als Latrine dienen sollte. Nacktes Felsgestein bildete die drei Seitenwände, auch der Boden war aus Fels; eiserne Gitterstäbe versperrten ihr den Ausgang. Batteriebetriebene Lampen, von denen einige unter der Decke befestigt waren, während andere auf dem Boden standen, spendeten Licht. Trennwände waren errichtet worden, vermutlich um »individuelle Räume« zu schaffen, und gaben ihr das Gefühl, dass sie und das Monster nicht allein waren, dass es noch weitere Opfer gab, oder, schlimmer noch, einen stummen Komplizen.
Ray?
Nein, Ray würde sich die Hände nicht schmutzig machen, doch er kannte genügend Abschaum, der sich zu einer so grauenvollen Tat anstiften ließe.
Allmächtiger.
Sie wusste, dass ihre Chancen, lebend hier rauszukommen, gering standen. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an ihre Söhne dachte. Wo waren sie? Hielten sie sie bereits für tot? Waren sie bei Ray? Cameron sprach davon, zur Marine zu gehen, wenn er mit der Schule fertig wäre, und Ray hatte, anders als sie selbst, keine Vorbehalte deswegen. Drew war noch so jung, er hatte in der Schule zu kämpfen und nichts anderes im Kopf, als endlich seinen Führerschein in den Händen zu halten. Er brauchte sie. Beide Jungen brauchten sie!
Ray wäre kein sonderlich guter Ersatz.
Er war ein lausiger Ehemann gewesen und auch kein viel besserer Vater. Sicher, er hatte den Jungs gezeigt, wie man mit einem Gewehr umging, Rotwild jagte und ausweidete und sein Werkzeug in Ordnung hielt, doch das war auch alles, was er an Vaterqualitäten aufweisen konnte. Er würde ihnen miserables Fastfood servieren und es kaum schaffen, sie rechtzeitig zur Schule zu bringen. Ihre Kleidung würde ungewaschen bleiben, und wo würden sie unterkommen, wenn er zu einer seiner Fernfahrten aufbrach? Bei seiner Junkie-Schwester, oder wären sie sich selbst überlassen? Je mehr sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass er hinter ihrer Entführung steckte.
Sie verabscheute es, so schlecht von ihm zu denken. Dennoch hatte sie sich einst etwas vorgemacht, als sie glaubte, ihn zu lieben. Doch Ray war bekannt für seine Wutausbrüche und seinen lang anhaltenden Groll. Sie hatte aus erster Hand erfahren, wie grausam und unbeherrscht er sein konnte, hatte nicht nur seine scharfe Zunge, sondern auch ein ums andere Mal seinen Handrücken zu spüren bekommen.
Vielleicht hatte er jemanden dafür bezahlt, dass er sie aus dem Weg räumte, obwohl sie ihm nicht wirklich zutraute, eine Entführung organisieren zu können; so etwas erforderte Organisation, kühle Berechnung und Grips - den Ray nicht besaß.
Doch er würde alles daransetzen, um ihr seine Überlegenheit zu beweisen.
Sie schauderte, als sie ihren Entführer erblickte, der sich ihrem Käfig näherte.
»Ich … ich werde alles tun, Ihnen alles geben, was ich habe, wenn Sie mich nur freilassen«, flehte sie zähneklappernd, während das Monster sie herablassend musterte und dabei irgendein Weihnachtslied summte, dessen Titel ihr im Augenblick partout nicht einfallen wollte. Sie wusste, dass er sie unter Drogen gesetzt hatte, weil sie sich total groggy fühlte und ständig eindöste; vermutlich hatte er ihr ein Schlafmittel verabreicht. Zum Teil war sie dankbar dafür, denn so fühlte sie die beißende Kälte nicht ganz so heftig, doch in den wenigen hellen Momenten, die sie immer wie der hatte, in den kurzen Minuten, die sie wach und bei klarem Verstand war, vermischte sich die Angst um ihr Leben mit der Sorge um ihre Söhne, und sie zitterte, bebte, keifte, weinte und flehte um Gnade, obwohl sie wusste, dass es für sie keine Gnade geben würde.
Er würde wiederkommen.
Würde sie zwingen, den
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