Montana 04 - Vipernbrut
Bianca simste noch immer, der vor ihr liegende Kartenstapel wurde nicht kleiner; Jeremy, der nach wie vor an der Lichterkette herumfummelte, starrte gebannt auf den Fernseher, wo eben die neuesten Sportergebnisse verkündet wurden.
Vermutlich war das die einzige Familientradition, die nie aussterben würde, dachte Pescoli.
Was ziemlich jämmerlich war, wenn man genauer darüber nachdachte.
Kapitel zwölf
W as für ein Riesenfehler!
Was hast du dir nur dabei gedacht, 0 ‘Keefe zu dir nach Hause einzuladen? Das schreit ja geradezu nach Ärger!
»Er wird es früher oder später sowieso herausfinden«, sagte sie laut, während sie die Tür zu ihrem Reihenendhaus aufsperrte, in den kleinen Flur trat und die Schlüssel auf das Garderobentischchen warf. Sie konnte die Geburt ihres Sohnes nicht ewig verheimlichen.
Vielleicht ist Gabriel Reeve ja gar nicht dein Sohn …
»Ja, ja, ich weiß!« Auch diese Möglichkeit hatte sie wieder und wieder erwogen, doch sie nahm an, dass sie die Wahrheit einfach nicht sehen wollte. Seufzend nahm sie ihren Schal ab und hängte ihn an die Garderobe. Es wäre besser, O’Keefe erführe von ihr, was in der Vergangenheit geschehen war. Es würde ihm vielleicht helfen, den Jungen zu finden, und das wollte sie unbedingt.
Und was dann? Er wird sich wegen des Raubüberfalls vor Gericht verantworten müssen!
»Natürlich«, führte sie ihr Selbstgespräch fort. Sie glaubte an das Rechtssystem, vertraute darauf. Selbst wenn es im Fall von Junior Green versagt hatte.
Sie musste Gabriel Reeve finden und ihn dem Richter vorführen, aber nur mit einem ausgezeichneten Rechtsanwalt als Beistand.
Wirst du ihm einen Anwalt suchen? Wann? Bevor oder nachdem du mit ihm ein Mutter-Sohn-Gespräch geführt und ihm erklärt hast, warum du ihn damals zur Adoption freigegeben hast?
»Ach«, flüsterte sie und bückte sich, um Mrs. Smith auf den Arm zu nehmen, die mit ihren weißen Pfötchen die Treppe hinuntergetappt war. »Das Leben ist kompliziert«, murmelte sie, und Mrs. Smith rieb ihr Köpfchen an Alvarez’ Kinn.
Sie trug die Katze in die Küche und füllte ihren Napf mit Lieblingsfutter, dann ging sie ins Wohnzimmer, nahm die Fernbedienung und stellte die Nachrichten an. Wie erwartet, lief die Stellungnahme, die der Beamte für Öffentlichkeitsarbeit vor der Presse abgegeben hatte. Die Aufnahmen waren weniger als eine Stunde alt, und Alvarez betrachtete Sheriff Dan Grayson, der kerzengerade neben der Frau mit dem Mikro stand. Er sah gut aus, dieser hochgewachsene, stattliche Mann, wie ein richtiger Cowboy mit seinem Stetson und den Stiefeln. Sie konnte sich ihn gut beim Viehtrieb vorstellen, hoch zu Ross unter der glühenden Sonne. Grayson war ein zäher, aufrechter Bursche mit genau den richtigen Moralvorstellungen und sehr viel Fingerspitzengefühl. Ihm war es als erstem Mann nach einer wahren Ewigkeit gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ihr schnürte sich der Hals zu, wenn sie daran dachte, wie sie von ihm, ihrem Boss, geträumt hatte.
Nun erschien die Presbyterianische Kirche auf dem Bildschirm, davor die Krippe. Hinter der Reporterin waren Polizei und Kriminaltechniker bei der Arbeit zu sehen, und als ein Kameraschwenk das zeigte, was bis vor kurzem die wunderschöne, intakte Kulisse für Maria, Josef, das Jesuskind und die Heiligen Drei Könige gewesen war, fühlte sich Alvarez in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, und sie dachte an die Krippen ihrer Kindheit in Woodburn, Oregon. Die weihnachtlichen Traditionen fielen ihr wieder ein, die Fröhlichkeit, die atemlose, gespannte Vorfreude. Das Haus war voller Trubel gewesen, ihre Geschwister hatten gelärmt, während ihre Großmutter so schnell Spanisch gesprochen hatte, dass es klang wie das Rattern eines Maschinengewehrs. Alles hatte nach Zimt geduftet wegen der traditionellen mexikanischen Plätzchen, die tagelang gebacken wurden. Sie erinnerte sich an Girlanden und Lichterketten und an Heiligabend, wenn Großmutter Rosaritas hausgemachte Tamales in ihren Maishülsen dampften, so dass die ganze große Küche von ihrem Duft erfüllt war.
Später am Abend hatte sich die gesamte Großfamilie in die Autos gequetscht und war zur Mitternachtsmesse in die Kathedrale der nahe gelegenen Kleinstadt Mount Angel gefahren. Auf dem Weg dorthin hatte Selena aus dem Fenster des alten Kombis die vorbeiziehenden Felder betrachtet und die Bauernhäuser, die allesamt mit bunten Lichtern, Zederngirlanden und Tannenzweigen geschmückt waren. Der
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