Montana 04 - Vipernbrut
alte Ford war auch an vielen Krippen vorbeigerollt, eine jede sorgfältig aufgebaut, allesamt Sinnbilder für Frieden und Frömmigkeit, welche an die Geschichte von Christi Geburt erinnerten.
Sie hatte stets tiefe Ehrfurcht empfunden, wenn sie diese von Menschenhand nachgebildeten Darstellungen der Heiligen Nacht betrachtete. Nie im Leben, auch nicht als erwachsene Frau, die durch ein hartes Berufsleben geprägt und vielleicht abgestumpft war, hätte sie eine Krippe mit etwas so Niederträchtigem wie Mord in Verbindung gebracht.
Der Gedanke an die grausige Szene heute Morgen dagegen ließ sie den Glauben an das Gute in der Welt verlieren. Schwarz und weiß - dazwischen gab es keinen Platz für Grau.
Sie eilte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer und zog sich um. Wo blieb bloß O’Keefe? Er war ihr nachgefahren, doch irgendwo auf dem Weg zwischen dem Department und ihrem Haus hatte sie ihn im dichten Verkehr verloren.
Im Grunde musste sie sich keine Sorgen machen, er wusste ja, wo sie wohnte. Im Badezimmer drehte sie den Hahn auf und stellte dankbar fest, dass das warme Wasser wieder lief.
»Und es gibt doch einen Gott«, flüsterte sie. Sie schnappte sich ihre Bürste, strich sich das Haar aus dem Gesicht und fasste es mit einem Gummiband am Hinterkopf zusammen, dann teilte sie es in drei Strähnen, die sie zu einem Zopf flocht. Gerade als sie ein zweites Gummiband um das untere Ende schlang, ging die Haustürklingel.
»Das wurde aber auch Zeit.« Sie rannte die Stufen hinunter und wäre dabei fast über Mrs. Smith gestolpert, die die Treppe heraufgeschossen kam, um sich auf dem oberen Treppenabsatz zu verstecken.
Kurz vor der Haustür holte sie tief Luft, und noch bevor sie sich allzu viele Gedanken machen konnte, wie sie ihm beibringen sollte, dass sie womöglich Gabriel Reeves leibliche Mutter war, blickte sie durch den Spion, um sich zu vergewissern, dass der Mann auf der anderen Seite wirklich O’Keefe war.
Jetzt oder nie , dachte sie und öffnete die Tür.
»Ich habe uns etwas mitgebracht.« O’Keefe stand unter der Außenlampe und streckte ihr eine Pizzaschachtel entgegen.
»Ich dachte, du bist vielleicht hungrig.«
Nicht wirklich, nicht bei dem, was ich dir gleich sagen muss.
Essen war das Letzte, woran sie jetzt denken konnte. »Du hast recht«, sagte sie trotzdem. »Es war ein langer Tag.«
»Das glaube ich. Ich habe von der Leiche bei der Krippe gehört. Vermutlich hast du heute noch nicht viel gegessen.«
»Stimmt, nur ein paar Plätzchen«, sagte sie und trat beiseite, um ihn hereinzulassen.
Als sie die Peperoni-Pizza auf den Esstisch stellte und die dicke Schicht Tomatensoße, den klebrigen Käse und die fettigen Peperonistücke sah, spürte sie, wie sich ihr Magen verknotete, doch sie ließ sich nichts anmerken.
»Hier«, sagte er, griff in seine Tasche und zog eine Dose Bier heraus. »Ich habe mir etwas zu trinken mitgebracht. Für dich hab ich auch eine!« Er fischte eine zweite Dose aus der anderen Jackentasche.
»Danke, für mich nicht«, lehnte sie ab und ging in die Küche, um nach ihrem Pizzaschneider zu suchen, den sie schon seit ihrer Zeit auf dem College besaß. »Könntest du die Stücke kleiner schneiden?«, fragte sie, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, und warf ihm den Pizzaschneider zu. Wie vertraut sich das alles anfühlte! Sie nahm zwei kleine Teller aus dem Schrank und holte eine Flasche Mineralwasser, dann zog sie sich einen Stuhl zurück und setzte sich ihm gegenüber. Irgendwie kam sie sich vor wie eine Nonne, weil sie sein Bier abgelehnt hatte.
»Du hast gesagt, du wolltest mit mir reden«, fing er an und schnitt ein Stück Pizza ab. Der Mozzarella zog lange Fäden.
»Worüber denn?«
O Gott. Jetzt oder nie, Selena. Raus damit.
»Es besteht die Möglichkeit … nun, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Gabriel Reeve mein Sohn ist.« Sie zwang sich, die Worte über die Lippen zu bringen, und ignorierte das Sausen in ihrem Kopf. »Ich, ähm, ich bin mir nicht sicher - natürlich nicht -, aber ungefähr zu der Zeit, zu der deine Cousine Gabriel adoptiert hat, habe ich einen Jungen zur Welt gebracht. Die Akten stehen unter Verschluss, bis er achtzehn ist. Als ich ihn damals abgegeben habe, habe ich darum gebeten, dass weder er noch seine Adoptiveltern Kontakt mit mir aufnehmen oder gar versuchen, mich ausfindig zu machen. Es war eine geschlossene Adoption, und genau so wollte ich es.«
Sie schluckte. Das Gewicht von sechzehn Jahren, in denen sie keine Ahnung
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