Montana 04 - Vipernbrut
O’Keefe halten sollte.
Wenn sie zwischendurch doch einmal eingeschlafen war, hatte sie von Lara Sue Gilfrys eingefrorenem Leichnam geträumt, von Grace Perchant, die mit ihren beiden Wolfshunden durch den Schnee stapfte, und von Junior Green, der mit seinem fleischigen Zeigefinger vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. Der Finger hatte sich in die Mündung eines Revolvers verwandelt, und plötzlich hatte Green Hut und Mantel getragen und mit einem irren Grinsen auf dem fiesen, fetten Gesicht die Waffe auf sie abgefeuert.
Wumm!
Dann hatte die Szene plötzlich gewechselt, und sie lief über ein unbebautes Grundstück in San Bernardino, Kalifornien. Es war heiß, sie schwitzte und keuchte, als sie zwischen verrosteten Autowracks, wuchernden Kletterpflanzen und Müll nach ihrem verschwundenen Baby suchte. Hinter einem Stacheldrahtzaun bemerkte sie einen leuchtenden Plastikweihnachtsmann, der auf der teils heruntergebrochenen Vorderveranda eines baufälligen Bungalows hin-und herschaukelte. Der Bungalow, so erkannte sie jetzt, war Alberto De Maestros Versteck.
Nein, dachte sie. Mein Sohn kann nicht bei diesem Monster sein.
Und dennoch hörte sie über das Rauschen des Windes hinweg unverkennbar das Weinen eines verängstigten Babys. Es kam aus dem Hausinneren. Sie versuchte, schneller zu laufen, aber ihre Beine waren schwer wie Blei. Das Weinen wurde immer klagender.
Ich komme! Oh, mein Kleiner, ich komme …
Völlig auf gelöst erreichte sie den Stacheldrahtzaun und versuchte, über die scharfen Widerhaken zu klettern, die ihr die Haut aufrissen. Als sie es fast bis auf die andere Seite geschafft hatte, wurde die Haustür aufgerissen. Bumm! Die Tür knallte gegen die Wand, das Licht von drinnen fiel auf die morsche Veranda.
Alvarez schlug das Herz bis zum Hals.
Alberto De Maestro erschien im Türrahmen. Sie sah seine weißen Zähne aufblitzen, als er das Gesicht zu einem fiesen Grinsen verzog, dann breitete sich plötzlich ein roter Fleck auf seiner nackten Brust aus. »Dafür wirst du bezahlen, perra!«, knurrte er. Sie hörte Weihnachtsmusik durch die offene Tür dringen und das Weinen des Babys. Lauter.
»Geben Sie ihn mir. Bitte.«
De Maestro lachte.
»Er braucht mich.«
»Du hast ihn weggegeben«, erinnerte De Maestro sie grausam. »Er ist nicht länger dein Sohn!«
Sie sah rot. Was für ein jämmerlicher Vorwand, um sie von ihrem Jungen fernzuhalten! »Geh aus dem Weg, bastardo!«, befahl sie und machte einen Schritt auf das baufällige Haus zu. Plötzlich hörte sie ihren Namen.
»Selena! Nicht!«, schrie O’Keefe. De Maestro fuhr herum und zielte mit seiner Waffe, nicht auf sie, sondern direkt auf den Mann, den sie liebte.
»Nein! Nein!«, rief sie, dann war sie mit wild pochendem Herzen aus dem Bett hochgefahren. Mrs. Smith, die auf dem Kissen neben ihr geschlafen hatte, sprang fauchend auf und machte einen Buckel, dann schlich sie seitlich übers Bett, weg von ihrem verrückten Frauchen, sprang auf den Fußboden und versteckte sich in der Dunkelheit.
Alvarez hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen und versucht, sich zu beruhigen, schließlich, so redete sie sich wieder und wieder ein, war alles nur ein Alptraum gewesen.
»Nun reiß dich mal zusammen!«, ermahnte sie sich jetzt.
Der Pick-up hielt vor einer roten Ampel, und auch sie trat auf die Bremse, wobei sie wieder darauf achtete, genügend Abstand zu halten. Die Träume der letzten Nacht waren nicht mehr als angstverzerrte Erinnerungsfetzen aus ihrer Vergangenheit, die sich wegen ihrer momentanen Anspannung miteinander vermischten. Außerdem hatte sie O’Keefe gar nicht geliebt. Nicht wirklich. Was sie für ihn empfunden hatte, war eine Mischung aus Lust und Respekt gewesen. Es war wichtig, dass sie sich diese Tatsache vor Augen rief, denn nach dem gestrigen Abend sah es ganz danach aus, als würden sie bei der Suche nach Gabriel Reeve eng zusammenarbeiten. Noch lange nach ihrem Geständnis, sie könnte seine leibliche Mutter sein, hatten sie an ihrem Esstisch zusammengesessen, die kalte Pizza vor sich, und überlegt, wo der Junge wohl stecken mochte und was genau man ihm vorwarf.
Obwohl der bewaffnete Raubüberfall, in den er angeblich verwickelt war, nicht zu ihren Fällen zählte und nicht einmal in den Zuständigkeitsbereich des Sheriffbüros von Pinewood County fiel, hatte sie sich einverstanden erklärt, den Fall »offiziell« zu bearbeiten und auf die Mittel des Departments zurückzugreifen, auch wenn sie sich leicht unwohl dabei
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