Montana 04 - Vipernbrut
wirklich wie geschmiert. Wenigstens war der Baum fertig geschmückt, und die Lichterkette draußen an der Dachrinne funkelte.
Joelle wäre stolz auf sie gewesen.
»Fröhliche Weihnachten«, hatte sie sich heute frühmorgens gewünscht, als sie sich die erste köstliche, ach so nötige Tasse Kaffee einschenkte.
Sie war völlig gerädert aufgewacht, weil sie die ganze Nacht immer wieder über den neuen Fall nachgegrübelt hatte, nicht nur über die junge Frau im Eis, sondern auch über die beiden anderen Vermissten. Ob sie bereits tot waren? Entführt und ermordet von demselben Spinner, der das erste Opfer auf dem Gewissen hatte, oder hatte sie ein anderes Schicksal ereilt?
In Gedanken noch bei Lara Sue Gilfry, blickte sie in den leeren Kühlschrank, worin jetzt, nachdem sie gestern den letzten Käse auf den Auflauf gestreut hatte, nur noch eine Brottüte ohne Brot lag. Sie nahm sie heraus und warf sie in den Müll. Frustriert, weil sich außer ihr offenbar niemand dafür interessierte, dass sie ab und zu neue Lebensmittel brauchten, rief sie nach ihrem Sohn, um ihn daran zu erinnern, dass er gleich aufstehen musste, dann ging sie ins Bad und stellte die Dusche an.
Als sie nach ein paar Minuten aus dem Badezimmer trat, stellte sie fest, dass Jeremy immer noch nicht oben aufgekreuzt war, und fing an, innerlich zu kochen. Sie hatte gewusst, dass er verschlafen würde. Wieder rief sie nach ihm, dann ging sie ins Schlafzimmer und zog sich an.
Noch immer kein Geräusch von dem schlafenden Riesen.
»Na toll«, murmelte sie, schloss ihren Gürtel und ging die Treppe hinunter ins Untergeschoss, wo er sein Zimmer hatte.
Unten angekommen, stieß sie die Tür auf.
»Raus aus den Federn!«, rief sie und knipste das Licht an.
Binnen einer Sekunde stellte sie fest, dass das Zimmer leer war. Sein Bett war ungemacht, das Laken zerknittert, die Bettdecke lag auf dem Fußboden. »Jer?«, fragte sie überflüssigerweise. War er aus dem Haus gegangen, während sie geduscht hatte? Das konnte nicht sein. Es gab nur eine Toilette, und obwohl sie ihn ein paarmal dabei erwischt hatte, wie er von der Veranda in den Garten pinkelte, kam das doch eher selten vor. Nein, bestimmt hätte er an die Badezimmertür geklopft und sich beschwert, weil er eine volle Blase hatte. Anscheinend war er gestern Nacht gar nicht nach Hause zurückgekehrt. Seine Bücher und der Laptop lagen auf dem zerschrammten Tisch mit seiner Lavalampe, unberührt, genau so, wie er sie gestern dort hingeknallt hatte.
»Prima«, brummte sie und griff nach ihrem Handy. Gerade als sie seine Nummer eintippen wollte, ging die Haustür auf. Cisco fing an zu kläffen. Sie bog um die Ecke zur Treppe und wäre beinahe mit ihrem Sohn zusammengestoßen, der sich unbemerkt in sein Zimmer stehlen wollte.
»Oh!«, sagte er, offenbar verdutzt. »Mein Gott, Mom, hast du mich erschreckt.«
»Das Gleiche gilt für dich.« Er roch nach Zigaretten und Bier. »Wo bist du gewesen?«
»Aus.«
»Die ganze Nacht?«
»Ja.« Seine Stimme klang abwehrend.
»Der Film muss doch seit Stunden vorbei sein.«
»Ich hab bei Rory gepennt.«
»Ich kenne keinen Rory. «
»Ein Freund. Hab ‘ne Zeitlang an der Tankstelle mit ihm zusammengearbeitet. Aber jetzt muss ich wirklich.«
»Ich glaube kaum, dass du noch pünktlich zu deinem Seminar kommst.«
»Ich meinte auch nicht das Seminar, sondern mein Bett.«
»Du willst das Seminar sausen lassen? Jeremy … «
Er blickte von den oberen Treppenstufen auf sie herab.
»Glaub mir, Mom, ich hab das geregelt. Vertrau mir.«
»Wie soll ich dir vertrauen? Du gehst aus, rauchst und trinkst, obwohl du am nächsten Tag ins College musst, und dann lügst du mich auch noch an!«
»Dann lass es halt«, erwiderte er achselzuckend. »Ist mir eh egal.«
»Genau das ist das Problem. Dir ist alles egal! Wir reden hier über deine Zukunft, verdammt noch mal! Über deine, nicht über meine!«
»Wieder mal. Wir reden wieder mal über meine Zukunft. Ich hab’s langsam satt.«
»Und ich hab’s satt, dass du dich durchs Leben treiben lässt, ohne irgendeine Richtung vor Augen zu haben!«
»Kommt jetzt wieder die Leier, was du in meinem Alter schon alles auf die Beine gestellt hattest? Dass du mit dem College fertig warst, dich mit Dad verlobt hattest und eine Karriere als Super-Detectice anstrebtest?«, fragte er gereizt.
Sie nahm eine drohende Haltung an und sagte: »Genau darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, aber wie ich sehe, hast du dir meine Worte
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