Montana 04 - Vipernbrut
fühlte. Für gewöhnlich hielt sie sich strikt an die Regeln, doch diesmal, da womöglich ihr leiblicher Sohn unter Verdacht stand, würde sie die Vorschriften nicht ganz so genau nehmen. Was könnte das schon schaden?
Nichts, solange du das nicht nur deshalb tust, weil du Schuldgefühle hast wegen der Sache damals mit O’Keefe. Du musst einen klaren Kopf bewahren!
Obwohl sie nicht über die Vergangenheit oder ihre Beziehung gesprochen hatten, hatte beides doch zwischen ihnen gestanden.
Als er sich schließlich verabschiedete, hatte sie ihn zur Tür gebracht, stets darauf bedacht, Abstand zu wahren. Kaum hatte er die Schwelle überquert, hatte sie die Tür hinter ihm geschlossen und sich aufatmend dagegengelehnt. Was in San Bernardino zwischen ihnen passiert war, war lange vorbei.
Das musste ihr doch klar sein.
Genau wie ihm.
Die Ampel sprang auf Grün, der Fahrer des Pickups gab Gas und rutschte auf der vereisten Fahrbahn zurück, dann brachen die Hinterräder seitlich aus. Endlich gelang es ihm, den Wagen unter Kontrolle zu bringen und mit durchdrehenden Reifen den Hügel zu erklimmen.
Zwanzig Minuten später bog Alvarez auf den Parkplatz des Departments ein. Obwohl die Fläche gerade erst geräumt worden war, bedeckten schon wieder gut zwei Zentimeter Neuschnee die zugefrorenen Schlaglöcher und die Risse im Asphalt. Sie stellte den Motor ab, schnappte sich ihren Laptop, dann warf sie einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, ein deutliches Zeichen für Schlafmangel. Den sie zum großen Teil O’Keefe zu verdanken hatte.
In Wahrheit brachte dieser Mann nicht nur ihr emotionales Gleichgewicht ins Wanken, sondern ihr ganzes Leben. Sie musste sich einfach zusammenreißen!
Entschlossen stieg sie aus, schloss den Outback ab und betrat das Department. Drinnen hatte Joelle noch mehr Lichterketten angebracht, dazu ein silber-goldenes Spruchband, auf dem in Großbuchstaben, mit Sternchen verziert, »Ho, ho, ho!« stand. Santa Claus’ Weihnachtsschlachtruf zog sich durch den ganzen Gang.
»Sie müssen etwas dagegen unternehmen«, sagte Pescoli gerade zum Sheriff. Die beiden standen vor Graysons Büro. Pescoli hatte bereits ihren Mantel ausgezogen und sich einen Kaffee geholt. An der Tasse klebten Lippenstiftflecken, was bedeutete, dass sie schon eine Weile im Büro war, während Grayson das Gebäude offenbar gerade erst betreten hatte. An seinen Stiefeln hing noch Schnee, weiße Flocken schmolzen auf den Schultern seiner Skijacke.
»Das ist ja eine regelrechte Plage«, fuhr Pescoli fort und deutete auf Joelles neueste weihnachtliche »Verschönerungen«. Sturgis setzte sich schwanzwedelnd neben die Bürotür. »Wir sind hier in einem öffentlichen Gebäude … Ich kann doch keinen Verdächtigen durch diesen Gang zur Vernehmung führen! Ho, ho, ho! Ich bin der Weihnachtsmann und lese Ihnen jetzt Ihre Rechte vor!« Pescoli war außer sich. »Sie haben das Recht zu schweigen, ho, ho, ho! Alles, was Sie jetzt sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Ho, ho, ho! «
»Das reicht! Ich hab’s kapiert.« Grayson hob beschwichtigend die Hand. Offensichtlich gingen ihm sowohl Pescoli als auch Joelle gewaltig auf die Nerven. »Hören Sie, Pescoli, ich möchte Joelle nur ungern ihren Enthusiasmus nehmen.«
»Das hier ist ein Büro. Wir arbeiten hier! Sie kann ihre Weihnachtsbegeisterung doch anderswo austoben! Bei sich zu Hause. In der Kirche. Bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Tierheim - wo auch immer!« Sie machte eine ausholende Geste. »Ich weiß Joelles Bemühen, eine heitere, festliche Atmosphäre zu schaffen, ja durchaus zu schätzen«, behauptete sie, was Alvarez ihr nicht abnahm, »aber es ist nicht gerade leicht, in Weihnachtsstimmung zu kommen, wenn draußen arktische Stürme toben, der Strom ausfällt und ein grausamer Psychopath unterwegs ist, der Grizzly Falls zu seinem persönlichen Spielplatz auserkoren hat!«
»Puh!«, ließ sich Joelle vernehmen, die den Rest des Gesprächs mitbekommen hatte, und trippelte mit ihren hochhackigen Stiefeln und einem rot-grün karierten Cape an ihnen vorbei. Heute hatte sie ihr platinblondes Haar mit roten Clips zurückgesteckt, in den Händen hielt sie mehrere Tupperdosen mit noch mehr Weihnachtsgebäck. »Detective, ein bisschen festliche Dekoration schadet niemandem. Was für ein Unsinn, Weihnachten habe in Schulen und öffentlichen Gebäuden nichts zu suchen! Andere Religionen haben doch auch ihre Feiertage, man
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