Montana 04 - Vipernbrut
heraus und legte sie dem Ex-Footballspieler an, der erstaunlich wenig Widerstand leistete. Erst als O’Keefe fertig war, kehrte etwas von seinem vorherigen Zorn zurück.
»Ich werde dich verklagen«, murmelte er drohend. »Du hast mir den Arm gebrochen.«
»Du wirst es überleben«, erwiderte O’Keefe. »Leider.«
Die Sirenen waren jetzt unmittelbar vor dem Haus, Motoren dröhnten, Reifen knirschten im Schnee auf ihrer Einfahrt, rote und blaue Lichter zuckten durchs Garagenfenster.
»Polizei!«, schrie sie durch das ein Stück weit offene Garagentor. »Detective Selena Alvarez! Die Situation ist unter Kontrolle! Habe den Verdächtigen in Gewahrsam genommen!« Sie wandte sich an Green und knurrte: »Steh auf, du Bastard, und tu bloß nichts Unüberlegtes, sonst blase ich dir dein verdammtes Hirn weg, und zwar mit größtem Vergnügen!«
Der Anruf ging bei Pescoli ein, gerade als die Ofenuhr verkündete, dass der Thunfischauflauf fertig war, den sie in Windeseile zusammengezaubert hatte. Unter Alvarez’ Adresse war eine Schießerei gemeldet worden. Der Sheriff höchstpersönlich hatte beschlossen, sie davon in Kenntnis zu setzen, also stellte sie Ofenuhr und Ofen aus und hörte ihm zu. Anscheinend hatte J. R. »Junior« Green, ein kranker, pädophiler Mistkerl, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis sein Versprechen von damals wahrmachen und sich an Alvarez rächen wollen. Laut Grayson befand er sich mittlerweile in Gewahrsam, und Alvarez ging es den Umständen entsprechend gut. Sie und Dylan O’Keefe, der zum fraglichen Zeitpunkt bei ihr gewesen war, waren von einer Sanitäterin untersucht worden und hatten es abgelehnt, in die Klinik zu fahren. Green war allerdings ziemlich übel zugerichtet, offenbar war er mit dem Kopf auf den Betonboden der Garage geprallt, und Alvarez’ Outback hatte sich jede Menge Querschläger eingefangen.
»Bin schon unterwegs«, sagte sie. Grayson versuchte nicht, sie davon abzuhalten.
»Gut. Ich denke, Ihre Partnerin kann einen Freund an ihrer Seite gebrauchen.«
»Ich dachte, den hätte sie bereits.«
»Ich spreche von einer Freundin, mit der sie darüber reden kann.«
»Ja, ich weiß, was Sie meinen.« Doch Grayson wusste nicht, was eigentlich hinter der Anwesenheit von Alvarez’ »Freund« steckte: Pescoli war überzeugt davon, dass weder er noch sonst jemand im Department wusste, dass der junge Ausreißer, der in das Haus ihrer Partnerin eingebrochen war, deren leiblicher Sohn sein könnte. Der Sheriff spürte nur, dass Alvarez moralische Unterstützung brauchte, von einer Vertrauten, einem Psychologen oder der Familie. In Selenas Fall war Pescoli diejenige Person, die ihr in einem Umkreis von hundert Kilometern am nächsten stand.
Sie legte auf und öffnete die Ofentür. Cisco, der glaubte, dass etwas für ihn abfallen könnte, kam sofort in die Küche gesprungen und blickte ebenfalls in den Ofen. Drinnen brutzelte der Auflauf, die Kruste wurde langsam braun.
Kopfschüttelnd teilte Pescoli der hoffnungsvollen Promenadenmischung mit: »Nein, ich glaube, das ist nichts für dich.« Es war warm in der Küche, der Duft von geschmolzenem Käse erfüllte die Luft. Pescoli streifte brandfleckige Topfhandschuhe über, nahm die Auflaufform heraus und stellte sie auf dem Herd ab, der nach zwanzig Jahren Dauereinsatz ebenfalls deutliche Gebrauchsspuren aufwies. Er war, wie sie sich nun zurückerinnerte, ein Geschenk ihrer Tante gewesen, kurz bevor sie Joe geheiratet hatte. Damals war sie schon mit Jeremy schwanger gewesen.
Sie blickte den Flur entlang, der an Biancas und ihrem Schlafzimmer vorbei zur Kellertreppe führte. Ihr Sohn hatte sich in seinem Zimmer verkrochen, wo er den Großteil der vergangenen sechsunddreißig Stunden verbracht hatte. Er hatte behauptet, gestern seine letzte Prüfung geschrieben zu haben, doch sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben konnte.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie sehr hatte sie sich auf das neue Leben gefreut, war als strahlende junge Braut bei der Babyparty mit Backformen und anderen Küchenutensilien überhäuft worden, doch dann hatte sie einen Jungen zur Welt gebracht, der es auch knapp zwanzig Jahre später nicht mal ansatzweise schaffte, ein erwachsener Mann zu werden. Sie ging die Treppe hinunter und klopfte an seine Zimmertür.
Keine Antwort, aber sie wusste, dass er dort drinnen war.
Sie stieß die Tür auf und sah ihn mit Kopfhörern auf dem Bett sitzen, einen Controller in der Hand, den Blick starr auf
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