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Montedidio: Roman (German Edition)

Montedidio: Roman (German Edition)

Titel: Montedidio: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erri De Luca
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verbrannten Händen, während sie die Wäsche die halbe Gasse entlang mit Klammern befestigt. Ich nicke zustimmend, sie sucht nach guten Worten für mich. Dann entfernt sie sich, und ich spreche meine Beschwörung wegen Poggioreale: »Sciòsciò, sciòsciò« , husch, weg damit, und ich sage auch cananóre , was ich vor Kurzem gelernt habe.
    I CH SPRECHE MIT R AFANIELLO , heute haben wir Zeit, vermisst Ihr Eure Heimat nicht, frage ich. Seine Heimat gibt es nicht mehr, es gibt dort keine Lebenden mehr und auch keine Toten, man hat sie alle zusammen verschwinden lassen: »Es ist nicht ihr Fehlen, was ich spüre, ich spüre ihre Anwesenheit. In meinen Gedanken oder wenn ich singe, wenn ich einen Schuh repariere, fühle ich die Gegenwart meiner Heimat. Sie kommt mich oft besuchen, jetzt, wo sie keinen Ort mehr für sich hat. Im Ruf des Wasserträgers, der mit dem Karren nach Montedidio hinaufsteigt, um schwefliges Wasser in Tonkrügen zu verkaufen, ja, auch mit seiner Stimme kommen ein paar Silben aus meiner Heimat zu mir.« Eine Weile schweigt er, die kleinen Nägel im Mund und den Kopf über eine Sohle gebeugt. Dann sieht er, dass ich in seiner Nähe geblieben bin, und spricht weiter: »Wenn du Sehnsucht nach etwas bekommst, ist das keine Abwesenheit, es ist Anwesenheit, es ist ein Besuch, Menschen, Länder kommen von weit her und leisten dir ein bisschen Gesellschaft.« Wenn ich also an etwas denken muss, das mir fehlt, dann soll ich sagen, dass es da ist, Don Rafaniè? »Richtig, so heißt du jedes Fehlen willkommen, du bereitest ihm einen herzlichen Empfang.« Wenn Ihr dann also fortgeflogen seid, darf ich Euch nicht vermissen? »Nein«, sagt er, »wenn du an mich denken musst, bin ich bei dir.« Auf die Papierrolle schreibe ich Rafaniellos Worte, die das Vermissen auf den Kopf gestellt haben, und dadurch sieht es jetzt besser aus. Er macht es mit den Gedanken wie mit den Schuhen, er legt sie umgedreht auf das Bänkchen und flickt sie.
    P APA IST GEKOMMEN, um sein Hemd zu wechseln, und hat Maria angetroffen. Sie hat zu ihm gesagt, dass sie hier ist, um die Wohnung aufzuräumen, um mir zu helfen, er hat ihr gedankt, hat die frisch gewaschene Wäsche für Mama genommen und ist wieder gegangen. Er hat in der Werkstatt vorbeigeschaut, um Hallo zu mir zu sagen, Maria hat er dabei nicht erwähnt, seine Augen waren starr vor Müdigkeit. Ich frage nicht nach Mama, er sagt nichts, sein Bündnis mit ihr ist noch fester geworden, und ich bin außen vor. Auch mein Bündnis mit Maria ist ein Verschließen nach außen. Viele Dinge verändern sich, doch am meisten verändern wir uns selbst. Kein anderes Gesicht ist so verwelkt wie das von Papa. Aus keinem anderen Buckel entfalten sich Flügel, kein Körper ist so bereit, einen Bumerang zu werfen, und Maria musste sich gerade jetzt vom schmierigen Abdruck alter Hände befreien, damit sie sich von meinen mit Sägemehl geglätteten Händen auf der höchsten Dachterrasse von Montedidio halten lassen kann. Wenn das Netz sich dem Ufer nähert, wiegt es weniger, und man kann es schneller herausziehen, so geschieht es mit uns. Auch die Rolle dreht sich schneller, sie wird vom Gewicht des beschriebenen Teils gezogen.
    I CH NEHME R AFANIELLO MIT auf die Dachterrasse zur Waschküche, auf der Treppe hüpft er, er kann nicht gehen. Er blickt über die Brüstung, schaut nach Süden und nach Osten. Er öffnet das Weiße seiner Augen, das grüne Rund, das starr auf die Flugroute blickt, hebt sich ab, dann verabschieden wir uns rasch voneinander, ich frage ihn, woran er denkt. Es ist Mittag am Weihnachtstag, jeder ist bei sich zu Hause, nur wir sind unter freiem Himmel, und die Luft über dem Meer strahlt. Den Blick dorthin gerichtet, sagt er, ohne mich anzuschauen: »Bei uns sagt man: ›Dies ist Himmel und dies ist Erde‹, wenn man zwei entgegengesetzte Punkte bezeichnen will. Hier oben sind sie nah beieinander.« Natürlich, Don Rafaniè, hier oben über Montedidio seid Ihr mit einem Sprung schon im Himmel. »Viele Sprünge werden nötig sein, sehr viel Aufschwung. Wenn du träumst, dass du fliegst, hast du kein Gewicht, du musst deine Kraft nicht überzeugen, dich in der Höhe zu halten. Doch wenn die Flügel und der Körper dazukommen, muss man sich beeilen mit dem Abflug, dann benötigt man eine gewaltige Kraft, um sich von der Erde zu lösen, einen Sprung wie ein Messer, das dich mit einem Schnitt vom Boden reißt. Ich bin ein Schuster, ein Sàndlar, sagte man in meinem Land. Ich flicke

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