Montedidio: Roman (German Edition)
Schuhe, ich kenne mich mit Füßen aus, ich weiß, wie sie sich abstützen, wie sie es fertigbringen, einen ganzen Körper, der sich über ihnen erhebt, im Gleichgewicht zu halten, ich verstehe den Nutzen des Spanns, die Härte der Ferse, die Federung, die im Knochen des Sprungbeins sitzt, die die Sprünge nach vorn, zur Seite und in die Höhe unterstützt. Ich kenne die Schmerzen des Fußes und das Glücksgefühl, sich auf jeder Oberfläche, sogar auf einer gespannten Schnur, halten zu können. Einmal habe ich einem Seiltänzer vom Zirkus ein Paar Schuhe aus Dammhirschleder gemacht. Hier in Neapel habe ich gelernt, dass Füße zur See fahren können, ich habe Schuhe von Matrosen repariert, die die Pendelbewegung des Meeres ausgleichen müssen. Meine Füße haben mich bis auf diesen Montedidio gebracht, sie haben mich gerettet. Bei uns heißt es, dass die Füße, nicht die Zähne dem Wolf zu fressen geben. Ich habe sogar einen Buckel, der mich nach unten drückt, was also macht ein so irdischer Mensch am Himmel, wo er unter den Sternen mit Flügeln schlägt?«
I CH SCHREIBE SEINE W ORTE AUF , weil ich sie noch einmal höre, nicht weil ich sie noch im Gedächtnis habe. Ich mache das gute Auge zu, und während ich mit dem Bleistift in schiefen Linien über die Papierrolle fahre, fängt Rafaniellos Stimme wieder an zu flüstern, und gleichzeitig streifen mich die Geister: »Flügel sind gut für die Engel, dem Menschen sind sie eine Last. Einem Menschen muss zum Fliegen das Gebet genügen, das steigt auf über Wolken und Regen, über Zimmerdecken und Bäume. Unsere Flugbewegung ist das Gebet. Ich war immer gebeugt, ein krumm gehauener Nagel, zum Boden hingewandt. Gegen meine Natur dreht ein anderer Wille mich jetzt herum und drückt mich in die Höhe. Jetzt habe ich Flügel, doch um fliegen zu können, muss man aus einem Ei, nicht aus einem Schoß geboren sein, auf Zweigen, nicht auf der Erde ausgebrütet werden.« Er lehnt sich weit über die Brüstung, die Flügel schlagen gegen die Jacke, unwillkürlich mache ich eine Bewegung, um ihn festzuhalten. Er fühlt die Berührung und dreht sich um, hat wieder Boden unter den Füßen, lächelt mit dem ganzen Gesicht außer mit den Augen, denn die sind die Augen eines Vogels, unbeweglich, weit entfernt mitten im Gesicht. Der Bumerang unter meiner Jacke ist warm, braves
Holz.
W ÄHREND WIR NACH UNTEN GEHEN , ertönt aus der Wohnung des Hausbesitzers der Lärm von zerbrechenden Tellern. Rafaniello bleibt stehen und sagt, ohne zu wissen, wer in dieser Wohnung wohnt: »Der Mann ist von seinem eigenen Blut betrunken.« Ist das die Verwünschung des Hundes, Don Rafaniè? Er sagt Ja, und mir fährt ein kalter Schauer über den Rücken. Ich habe ihn von der Terrasse fort auf die Treppe gestoßen, ich habe ihn mit offenen Händen und ausgestreckten Armen geschlagen. Ich habe ihn verjagt, und die Kälte im Rücken geschieht mir recht. Ich steige hinter Rafaniellos Sprüngen die Treppe hinunter, während der Krach von zerbrechenden Tellern ununterbrochen weitergeht. Zu Hause hat Maria sich eine Schürze umgebunden, sie wartet auf meine Rückkehr, gerade bereitet sie eine Soße mit Zwiebeln zu, ihre Augen sind voller Tränen, und sie lacht. Don Ciccio, der Portier, klopft an die Tür, wir bitten ihn in die Küche, er setzt sich zu uns und fängt an zu reden: »Eure Familien fallen auseinander, und ihr tut euch zusammen. Ihr seid noch Kinder, aber ihr macht es richtig, man muss sich gegenseitig helfen, und bei uns in Neapel wird man schnell erwachsen.«
R UHIG SPRICHT D ON C ICCIO , die gefalteten Hände auf dem Tisch und wie immer die Baskenmütze tief in die Stirn gezogen, auch im Haus. »Dich, Maria, kenn ich, seit du in den Windeln lagst, ich weiß, was du schon durchgemacht hast.« Maria blickt ihn starr an, schnaubt heftig durch die Nase, ein Zeichen von Wut. »Marì, wenn es bei dir zu Hause niemanden gibt, der dich beschützt, im Gegenteil, wenn sie dir Probleme einbrocken, dann kann dir niemand helfen. In meiner Familie ist das Gleiche passiert, das war im Krieg, wir hatten wenig zu essen, meine jüngste Schwester ging hinauf in die gewisse Wohnung in unserem Haus und brachte Brot nach Hause. Marì, schau mich nicht böse an, werd nicht wütend, wenn ich dir sage, dass ich weiß, was du durchgemacht hast. Jetzt ist dieser Junge da, ein anständiger junger Mann, einer, der arbeitet, der den alten Leuten Respekt entgegenbringt, er geht sogar vertraut mit diesem ausländischen
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