Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
sie ihren Reiseführer auf und las den Abschnitt über das Rote Fort. Ein paar Minuten später merkte Ranjeet, dass sie sich auf das Buch konzentrierte, und verstummte.
Fast eine halbe Stunde lang war sie in die Texte über die Architektur und die Geschichte des Roten Forts vertieft, sodass sie weder vom Verkehr noch von der Strecke, die sie fuhren, etwas mitbekam. Genauso wenig wie von den beiden Autos, die dem ihren folgten: das eine ein weißer Ambassador, das andere ein schwarzer Mercedes. Manchmal kamen die beiden Fahrzeuge sehr nahe, vor allem vor roten Ampeln oder wenn sie im Stau steckten. Dann wieder hielten sie sich ziemlich weit entfernt, ohne sie jedoch ganz aus dem Blick zu lassen.
»Bald kommt auf der rechten Seite das Rote Fort«, sagte Ranjeet. »Gleich hinter der nächsten Ampel.«
Jennifer hob den Blick von ihrer Lektüre, die sich mittlerweile nicht mehr mit dem Roten Fort, sondern mit der Jama-Masjid-Moschee beschäftigte. Was ihr sofort auffiel, war, dass Alt-Delhi deutlich belebter war als Neu-Delhi, sowohl mit Menschen als auch mit Fahrzeugen, vor allem mit Fahrradrikschas und Viehkarren. Auch mehr Müll und Unrat waren hier zu sehen. Und außerdem war erheblich mehr los. Alle möglichen Leute ließen sich rasieren oder die Haare schneiden, wurden medizinisch versorgt, holten sich Fast Food, ließen sich massieren, die Ohren putzen, die Kleider reinigen, die Schuhe und die Zähne reparieren – alles unter freiem Himmel und praktisch ohne Werkzeug. Der Barbier hatte nichts weiter als einen Stuhl, eine winzigen zerbrochenen Spiegel, ein paar Geräte, einen Eimer mit Wasser und einen großen Lappen.
Jennifer war fasziniert. Alle alltäglichen Verrichtungen, die im Westen nur hinter verschlossenen Türen stattfanden, wurden hier im Freien erledigt. Jennifer war regelrecht überfordert. Jedes Mal, wenn sie irgendwo etwas entdeckte und ihren Fahrer fragen wollte, was die Leute da machten oder warum unter freiem Himmel, sah sie etwas noch Verwunderlicheres.
»Da ist das Rote Fort«, sagte Ranjeet stolz.
Durch die Windschutzscheibe sah Jennifer ein monströses, mit Zinnen versehenes Bauwerk aus rotem Sandstein. Es war viel größer, als sie gedacht hatte. »Das ist ja riesig«, stieß sie hervor. Der Mund blieb ihr offen stehen. Die Fahrt entlang der Westmauer schien sich endlos hinzuziehen.
»Der Eingang ist da oben, auf der rechten Seite«, sagte Ranjeet und deutete geradeaus. »Beim sogenannten Lahore-Tor. Dort hält der Premierminister am Unabhängigkeitstag immer seine Ansprache.«
Jennifer hörte gar nicht zu. Das Rote Fort war überwältigend. Beim Lesen hatte sie sich etwas von der Größe der New York Public Library vorgestellt, aber das hier war um ein Vielfaches größer und mit wundervollen exotischen Architekturelementen versehen. Eine angemessene Besichtigung würde einen ganzen Tag in Anspruch nehmen und nicht nur die eine Stunde, die sie dafür eingeplant hatte.
Ranjeet fuhr auf den Parkplatz vor dem Lahore-Tor. Auf einer Seite waren etliche riesige Reisebusse abgestellt. Ranjeet fuhr daran vorbei und blieb vor einer Reihe mit Souvenirläden stehen.
»Ich warte gleich hier drüben«, sagte er und deutete auf ein paar ziemlich mitgenommene Bäume, die ein wenig Schatten spendeten. »Falls Sie mich nicht gleich sehen können, rufen Sie mich einfach an. Dann komme ich wieder hierher.«
Er gab ihr eine Visitenkarte, die Jennifer wortlos einsteckte. Sie hielt den Blick auf die gewaltigen Formen der Festungsanlage gerichtet und erkannte, wie sinnlos es war, ein berühmtes Bauwerk von den Ausmaßen des Roten Forts innerhalb einer Stunde besichtigen zu wollen. Damit würde sie ihm mit Sicherheit nicht gerecht werden. Dazu kam noch ihre allgemeine Erschöpfung, ausgelöst durch den Jetlag, das einschläfernde Brummen des Autos und die Einsicht, dass sie sowieso kein allzu großes Interesse an alten Gemäuern hatte. Jennifer studierte einfach lieber Menschen, als baufällige Architektur zu besichtigen. Das Getümmel auf den indischen Straßen, das sie vorhin vom Auto aus schon ein wenig mitbekommen hatte, weckte viel mehr ihre Neugierde.
»Stimmt etwas nicht, Miss Hernandez?«, erkundigte sich Ranjeet. Er blickte sie immer noch an. Jennifer hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
»Doch, doch, alles in Ordnung«, sagte Jennifer. »Ich habe mich nur gerade umentschieden. Wir sind doch hier in der Nähe des Basars, oder?«
»Oh, ja«, sagte Ranjeet. Er deutete auf die
Weitere Kostenlose Bücher