Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
die Einzige gewesen, die als Einkäuferin bei Bloomingdale’s eigenes Geld verdient hatte. Jetzt, wo Jennifers Medizinstudium sich dem Ende näherte und sie das eine oder andere über psychosomatische Erkrankungen und Simulantentum gelernt hatte, stellte sie die angebliche Behinderung ihres Vaters noch stärker in Frage und verachtete ihn noch mehr als zuvor.
Der Sessel, auf dem sie saß, hatte eine niedrige Sitzfläche und hohe Armlehnen, und so kam sie nur mühsam wieder hoch. Aber sie machte sich große Sorgen um ihre Großmutter und konnte nicht mehr länger sitzen bleiben. Außerdem war ihr klar, dass sie sich, solange auch nur die winzige Wahrscheinlichkeit bestand, dass diese Meldung sich auf ihre Großmutter bezog, sowieso nicht auf die Begegnung mit ihrem neuen Kursleiter konzentrieren konnte. Sie musste sichergehen, und das bedeutete, dass sie etwas tun musste, was ihr absolut zuwider war … sie musste ihren verhassten, stinkfaulen Vater anrufen.
Seit ihrem neunten Lebensjahr hatte Jennifer kaum noch mit ihm geredet. Sie hatte lieber so getan, als gäbe es ihn gar nicht, was bei den beengten Wohnverhältnissen gar nicht so einfach gewesen war. In dieser Hinsicht war der Umzug nach L.A. eine Erleichterung gewesen. Jedenfalls hatte sie seitdem kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Während des ersten Jahres hatte sie jedes Mal, wenn er ans Telefon gegangen war, einfach wieder aufgelegt und es noch einmal versucht, wenn sie sicher war, dass ihre Großmutter zu Hause war. Aber normalerweise wartete sie, bis ihre Großmutter sie anrief, was diese auch regelmäßig tat. Und selbst dieses Problem hatte sich irgendwann erledigt, nachdem ihre Großmutter sich auf Jennifers Drängen ein Handy angeschafft und den Festnetzanschluss Juan überlassen hatte. Und wenn Jennifer zu Besuch nach New York kam? Das hatte es in den letzten vier Jahren kein einziges Mal gegeben, zum Teil wegen ihres Vaters, zum Teil auch aus finanziellen Gründen. Stattdessen hatte ihre Großmutter sie ungefähr alle sechs Monate an der Westküste besucht. Maria hatte das unendlich genossen. Sie hatte gesagt, dass die Besuche bei Jennifer in Kalifornien das Aufregendste waren, was sie in ihrem ganzen Leben gemacht hatte.
Im Umkleideraum löste Jennifer die Sicherheitsnadel, an der ihr Schrankschlüssel befestigt war, öffnete ihren Spind und holte ihr Handy heraus. Sie musste eine Weile suchen, bis sie eine Stelle mit ausreichender Signalstärke gefunden hatte, und wählte. Mit zusammengebissenen Zähnen wartete sie auf die Stimme ihres Vaters. Hier in L.A. war es 7.45 Uhr, das heißt, dass es in New York 10.45 Uhr war, und das war die Zeit, wo Juan normalerweise von den Toten auferstand.
»Soso, meine hochnäsige Tochter«, spöttelte Juan zur Begrüßung. »Die schnöselige Frau Doktor in spe persönlich. Was verschafft mir denn die Ehre?«
Jennifer überhörte diese Provokation. »Es geht um Granny«, sagte sie einfach. Sie war fest entschlossen, sich auf keinen Fall auf irgendein anderes Thema einzulassen.
»Was ist mit Granny?«
»Wo ist sie?«
»Warum fragst du?«
»Sag mir einfach, wo sie ist.«
»Sie ist in Indien. Hat sich endlich die Hüfte richten lassen. Du weißt ja, wie stur sie ist. Ich will sie schon seit ein paar Jahren dazu überreden. Sie hatte ja immer mehr Probleme bei der Arbeit.«
Jennifer musste sich auf die Zunge beißen, um diese Bemerkung vor dem Hintergrund seiner eigenen Faulheit nicht weiter zu kommentieren. »Hast du von den Ärzten oder dem Krankenhaus oder von sonst jemandem schon etwas gehört?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Ich nehme an, dass sie dort deine Telefonnummer haben.«
»Natürlich.«
»Wieso hast du sie nicht begleitet?« Dass ihre Großmutter ganz alleine bis nach Indien geflogen war, um sich dort einer schweren Operation zu unterziehen, obwohl sie vorher noch nie weiter gereist war als zu ihr nach Kalifornien, war für Jennifer eine qualvolle Vorstellung.
»Ich konnte nicht, wegen meinem Rücken und so.«
»Wie hat sie diese Operation eigentlich überhaupt organisiert?« Sie wollte dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden. Die Tatsache, dass sich niemand bei Juan gemeldet hatte, war jedenfalls eindeutig ein ermutigendes Zeichen.
»Über eine Firma in Chicago. Sie heißt Foreign Medical Solutions.«
»Hast du die Nummer da?«
»Ja, einen Moment.« Jennifer hörte, wie der Hörer auf das winzige Beistelltischchen gelegt wurde. Sie sah es genau vor sich, direkt neben dem
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