Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
CNN lief, und beobachtete das stetige Kommen und Gehen von Ärzten, Krankenschwestern und anderem Personal. Der Operationsbetrieb war schon in vollem Gang. Man hatte ihr gesagt, dass montags immer ziemlich viel los war, und mit einem Blick auf die abwischbare Tafel stellte sie fest, dass im Augenblick in allen 21 Operationssälen gearbeitet wurde.
Jennifer nippte an ihrem Kaffee. Ihre Angst, zu spät zu kommen, ließ nach. Sie entspannte sich etwas und begann sich zu fragen, ob sie wohl in das hervorragende Ausbildungsprogramm der UCLA aufgenommen werden würde, falls sie sich tatsächlich auf Chirurgie spezialisieren wollte. Das Aufregende daran war, dass der gesamte Klinikbetrieb im kommenden Jahr auf die andere Straßenseite in das neu gebaute Ronald Reagan Medical Center umziehen würde, wo die Operationssäle auf dem allerneuesten Stand waren. Jennifer war eine der fleißigsten und besten Studentinnen ihres Jahrgangs und durfte sich daher berechtigte Hoffnungen machen, einen Platz zu bekommen, falls sie sich bewarb. Aber momentan war L.A. nicht ihre erste Wahl. Jennifer stammte nicht aus Los Angeles. Im Gegensatz zur großen Mehrheit ihrer Kommilitonen stammte sie nicht einmal von der Westküste. Sie kam aus New York und war nur in den Westen gekommen, weil sie hier ein Vier-Jahres-Stipendium erhalten hatte. Dieses Stipendium ging auf die Spende eines dankbaren und wohlhabenden Mexikaners zurück, der im UCLA Medical Center von seiner Krebserkrankung geheilt worden war. Es war ausdrücklich für eine weibliche, bedürftige Studentin lateinamerikanischer Abstammung bestimmt. Da alle drei Kriterien auf Jennifer zutrafen, hatte sie sich beworben und war angenommen worden. Das war der Anfang ihres unerwarteten Abstechers nach Kalifornien gewesen. Aber jetzt, wo sich ihr Medizinstudium dem Ende zuneigte, wollte sie gerne wieder zurück in den Osten. Sie liebte den Big Apple und fühlte sich durch und durch als New Yorkerin. Dort war sie zur Welt gekommen, und dort war sie aufgewachsen, auch wenn es eine ziemlich harte Zeit gewesen war.
Jennifer trank noch einen Schluck Kaffee und konzentrierte sich dann ganz auf den Fernseher. Die beiden CNN-Moderatoren hatten etwas Interessantes gesagt. Anscheinend war der medizinische Tourismus in vielen Entwicklungsländern vor allem im südasiatischen Raum, beispielsweise in Indien oder Thailand, gerade dabei, sich zu einer Wachstumsindustrie zu entwickeln. Und dabei ging es nicht nur, wie früher einmal, um Schönheitsoperationen oder irgendwelche dubiosen Krebsbehandlungen und andere Quacksalbereien. Es ging um modernste Verfahren wie zum Beispiel Operationen am offenen Herzen oder Knochenmarkstransplantationen.
Jennifer beugte sich vor und hörte mit wachsendem Interesse zu. Bis jetzt hatte sie noch nicht einmal den Begriff Medizinischer Tourismus gehört. Das kam ihr irgendwie wie ein Widerspruch in sich selbst vor. Sie war noch nie in Indien gewesen und wusste nicht viel darüber, stellte sich aber ein entsetzlich armes Land vor, dessen Bevölkerung zum überwiegenden Teil ausgezehrt und unterernährt war, sich in Lumpen kleidete und die eine Hälfte des Jahres im heißen, feuchten Monsun und die andere Hälfte in der heißen, trockenen, staubigen Wüste verbrachte. Sie war zwar klug genug, um zu wissen, dass solche Klischees nicht automatisch der Wahrheit entsprachen, ging aber auch davon aus, dass in jedem Klischee ein Körnchen Wahrheit steckte, sonst wäre es ja gar nicht erst zum Klischee geworden. Mit Sicherheit aber war ein solches Land nicht gerade das geeignete Ziel für jemanden, der bestes chirurgisches Können, moderne und teure Technologien sowie Operationstechniken des 21. Jahrhunderts suchte.
Jennifer merkte, dass die Nachrichtensprecher ihre Skepsis teilten. »Schockierend«, sagte der Mann gerade. »Im Jahr 2005 sind über 75.000 Amerikaner nach Indien gereist, um sich dort einer aufwändigen Operation zu unterziehen. Seither ist diese Zahl nach Angaben der indischen Behörden alljährlich um über zwanzig Prozent gestiegen. Man rechnet damit, dass der Devisenumsatz in dieser Branche bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf 2,2 Milliarden US-Dollar ansteigen wird.«
»Das finde ich verblüffend, wirklich absolut verblüffend!«, sagte seine Sprecherkollegin. »Warum machen die Leute das? Gibt es dafür eine Erklärung?«
»Der Hauptgrund liegt sicherlich darin, dass viele Menschen in den Vereinigten Staaten nicht krankenversichert sind, und der zweite Grund
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