Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
paar Hanteln stemmen. Da fiel ihr Blick auf die Uhr. Es war beinahe Mittagszeit, und sie hatte plötzlich eine ganz andere Idee: Mittagessen. Ihr war zwar immer noch ein bisschen übel, aber wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie versuchte, ihre Essgewohnheiten beizubehalten. Vielleicht renkte sich so auch ihr völlig durcheinandergeratener Schlafrhythmus schneller wieder ein.
Sie hatte heute Morgen kein Bedürfnis verspürt, irgendjemanden zu beeindrucken, am allerwenigsten die Leute vom Queen Victoria. Darum war sie nur in ein einfaches Polohemd und eine enge Jeans geschlüpft, genau wie jetzt auch. Plötzlich hatte sie eine Idee: Ob Mrs Benfatti vielleicht Lust hätte, sie zu begleiten? Natürlich konnte es sein, dass die Frau sich in tiefer Trauer befand und so niedergeschlagen war, dass sie sich nicht in die Öffentlichkeit wagen wollte. Aber gleichzeitig war es genau deshalb unter Umständen richtig, sie anzusprechen. Als Medizinstudentin hatte Jennifer schon oft genug miterlebt, wie sehr Menschen in unserer Gesellschaft durch Tod und Krankheit in die Isolation gedrängt wurden, gerade wenn sie dringend auf Trost und Unterstützung angewiesen waren.
Bevor sie völlig die Nerven verlor, griff sie zum Telefon. Sie ließ sich von der Telefonzentrale mit Mrs Benfattis Hotelzimmer verbinden. Für einen kurzen Moment hielt sie den Hörer möglichst weit vom Ohr weg und lauschte, ob sie es vielleicht irgendwo klingeln hörte. Aber sie hörte nichts.
Jennifer wollte gerade wieder auflegen, als sich eine heisere, erschöpfte Frauenstimme meldete. Wahrscheinlich hatte sie geweint.
»Mrs Benfatti?«, erwiderte Jennifer mit fragender Stimme.
»Ja«, entgegnete Mrs Benfatti unsicher.
Mit raschen Worten erklärte Jennifer ihr, wer sie war und warum sie nach Indien gereist war. Sie glaubte zu hören, wie Mrs Benfatti die Luft anhielt, als Jennifer ihr erzählte, dass ihre Großmutter unter ganz ähnlichen Umständen wie ihr Mann ums Leben gekommen war, nur einen Tag früher.
»Das mit Ihrem Mann tut mir sehr leid«, fuhr Jennifer fort. »Da meine Großmutter am Abend vorher gestorben ist, kann ich wirklich nachfühlen, was Sie empfinden müssen.«
»Herzliches Beileid auch für Sie. Das ist wirklich eine Tragödie, vor allem so weit von zu Hause entfernt.«
»Der eigentliche Grund für meinen Anruf«, fuhr Jennifer fort, »ist der, dass ich Sie fragen wollte, ob Sie vielleicht mit mir zu Mittag essen möchten.«
Mrs Benfatti gab nicht sofort eine Antwort. Jennifer wartete geduldig. Sie hatte vollstes Verständnis dafür, dass ihre Gesprächspartnerin diesen Vorschlag vermutlich erst einmal verarbeiten musste. Wahrscheinlich wirkte sie durch das Weinen und die Trauer ziemlich niedergeschlagen, und das war ein gewichtiges Argument, um auf dem Zimmer zu bleiben. Andererseits hatte Jennifers unverhoffter Anruf sie unter Umständen auch neugierig gemacht. Immerhin hatte sie dadurch die Chance, mit jemandem zu reden, der sich in derselben schrecklichen Lage befand wie sie.
»Ich muss mich erst mal umziehen«, sagte Mrs Benfatti schließlich, »und irgendwas mit meinem Gesicht machen. Ich habe mich erst vorhin im Spiegel angeschaut und bin – wie heißt es so schön? – leichenblass.«
»Lassen Sie sich Zeit«, erwiderte Jennifer. Sie fand die Frau jetzt schon sympathisch, vor allem, weil sie die Fähigkeit besaß, sich unter solch schwierigen Umständen selbst auf den Arm zu nehmen. »Es hat keine Eile. Ich kann hier auf Sie warten oder in einem der Restaurants, vielleicht in dem großen gleich beim Foyer? Oder haben Sie mehr Appetit auf chinesisches Essen?«
»Das normale Restaurant reicht völlig. Ich habe sowieso keinen großen Hunger. Ich bin in einer halben Stunde da und ziehe eine violette Bluse an.«
»Ich trage ein weißes Polohemd und eine Jeans.«
»Also dann, bis gleich. Ach, übrigens, ich heiße Lucinda.«
»Das hört sich gut an. Bis gleich, Lucinda.«
Langsam legte Jennifer den Hörer zurück auf die Gabel. Sie wusste nicht genau, wieso, aber sie hatte ein gutes Gefühl. Plötzlich freute sie sich richtig auf das Mittagessen. Ihre Übelkeit war auf geheimnisvolle Weise verflogen.
Das Restaurant besaß mehrere Ebenen, und Jennifer hatte sich einen Platz ausgesucht, von wo sie den Tisch der Bedienungen gut im Blick hatte. Sie entdeckte Mrs Benfatti in dem Augenblick, als sie das Restaurant betrat – zumindest war sie sich ziemlich sicher, dass es sich um Mrs Benfatti handelte. Sie trug eine
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