Montgomery & Stapleton 10 - Testphase
sogar der ganzen Welt, angemessen auszuüben?
Laurie war mittlerweile seit fast zwanzig Jahren beim OCME, der Abteilung des Chefforensikers von New York City, beschäftigt. Ihr mangelndes Selbstbewusstsein war immer schon ihr Handikap gewesen, schon als Teenager hatte sie darunter gelitten. Als sie damals beim OCME anfing, war sie jahrelang übermäßig besorgt darüber gewesen, ob sie die Fähigkeit besäße, die ein so fordernder und anspruchsvoller Job voraussetzt. Diese Zweifel machten ihr viel länger zu schaffen als ihren Kollegen, die anfangs mit ähnlichen Ängsten zu kämpfen hatten. Die forensische Pathologie verlangte mehr als theoretisches Wissen. Intuition spielte eine wichtige Rolle dabei, gut zu sein in diesem Job, und Intuition entwickelte sich aus ständig wachsender Erfahrung. Ein Gerichtsmediziner in der Pathologie sieht sich jeden Tag mit etwas konfrontiert, was er vorher noch nie zu Gesicht bekommen hat.
Laurie betrachtete sich im Spiegel und stöhnte. Sie fand, dass sie grauenvoll aussah mit den dunklen Ringen unter den Augen und einem Teint, der eher zu ihren »Patienten« gepasst hätte. Mutter zu sein hatte sich als sehr viel schwieriger und sowohl körperlich als auch geistig anstrengender herausgestellt, als sie jemals erwartet hatte, besonders, nachdem sie dabei mit einer ernsten, oftmals schwerwiegenden Krankheit umzugehen hatte. Gleichzeitig empfand sie es auch als viel bereichernder, als sie je geahnt hätte.
Sie nahm ihren Bademantel vom Haken an der Rückseite der Badezimmertür und warf ihn über, während sie gleichzeitig in ihre Pantoletten mit den rosa Puscheln über den Zehen schlüpfte. Sie musste über ihre Schuhe lächeln. Sie waren inzwischen das einzige Überbleibsel für sie an das Gefühl, sich in schöner Wäsche sexy zu fühlen und es richtig genossen zu haben. Flüchtig überlegte sie, ob dieses Gefühl jemals wiederkehren würde. Eine Mutter zu sein hatte ihr Selbstempfinden in mehr als einem Bereich verändert.
Laurie ging gemächlich die Diele zu JJs Zimmer hinunter. Die Tür stand angelehnt, und sie ging in den Raum, der hell genug für sie war, um etwas erkennen zu können. Die Morgendämmerung rückte näher, das war ein Grund dafür, aber entscheidender waren eine Anzahl Nachtlichter, die in bequemen Abständen an den Fußleisten angebracht waren. Dank ihrer Mutter war das Zimmer mit einer wilden, blauen Tapete und dazu abgestimmten Vorhängen ausgestattet, auf denen Flugzeuge und Laster abgebildet waren.
Die Einrichtung bestand lediglich aus einem Schaukelstuhl, in dem Laurie beim Stillen gesessen hatte, einem Stubenwagen mit einer Verkleidung in Lochmuster und einem Kinderbett. Der Stubenwagen stand hier nur noch aus sentimentalen Gründen, ebenso wie der Schaukelstuhl, obwohl sie ihn manchmal noch benutzte, wenn JJ unruhig war, oder ihre Anwesenheit brauchte, um einschlafen zu können.
Laurie ging hinüber zum Bett und sah ihren Sohn an, dankbar für seine gesunde Gesichtsfarbe. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab, als sie an die Zeiten dachte, in denen es anders gewesen war. Als JJ zwei Monate alt war, wurde bei ihm ein risikoreiches Neuroblastom festgestellt, eine sehr ernste und häufig tödliche Krebsart bei Kindern. Aber Laurie konnte den Glückssternen oder Gott oder Wemauchimmer oder Wasauchimmer danken, dass der Krebs sich zurückgezogen hatte. Ob dafür das göttliche Eingreifen eines Geistheilers in Jerusalem verantwortlich war oder der Einsatz der Ärzte am Sloan-Kettering-Krankenhaus oder die Tatsache, dass ein Neuroblastom gelegentlich spontan heilt, würde Laurie nie genau wissen – und um der Wahrheit die Ehre zu geben, scherte sie sich auch nicht darum. Das Einzige, was für sie zählte, war, dass JJ mittlerweile ein normaler eineinhalb Jahre alter Junge war, dessen Wachstum und Entwicklung trotz Chemotherapie und etwas, das monoklonale Antikörper-Therapie genannt wurde, es in jeder Hinsicht auf ein Normalmaß geschafft hatten, so normal, dass Laurie anfing, darüber nachzudenken, zu ihrer Arbeit zurückzukehren.
Das Betrachten des friedlich schlafenden Kindes zauberte ein Lächeln auf Lauries Gesicht, trotz der Bedenken und Sorgen, die sie empfand, weil sie wieder arbeiten wollte. JJs engelhaftes Gesicht erinnerte sie an das Gespräch, das sie am Abend zuvor mit Jack geführt hatte. Es begann, als sie beide im Kinderzimmer standen, um nachzusehen, ob mit JJ alles in Ordnung war, bevor sie selbst zu Bett gingen. Als sie beide
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