Montgomery u Stapleton 01 - Blind
die Schultern; sie trug es geflochten oder zu einem Dutt hochgesteckt. Was das Make-up betraf, verfocht sie die Theorie, daß "weniger mehr ist". Ein wenig Eyeliner für den Lidstrich ihrer blaugrünen Augen, ein paar Striche mit dem Augenbrauenstift zur Markierung der rötlichblonden Brauen, zart aufgetragene Wimperntusche, und sie war fast fertig. Ein Hauch Korallenrot auf die Wangen und Lippenstift rundeten die Prozedur ab. Zufrieden nahm sie ihre Tasse und ging zurück ins Schlafzimmer.
Inzwischen lief Guten Morgen, Amerika. Sie hörte mit halbem Ohr zu, während sie die Sachen anzog, die sie am Abend zuvor bereitgelegt hatte. Die forensische Pathologie war noch immer weitgehend eine Männerwelt, doch das bestärkte Laurie nur in dem Wunsch, ihre Weiblichkeit durch die Kleidung zu unterstreichen. Sie schlüpfte in einen grünen Rock und einen dazu passenden Rollkragenpullover, betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden. Die Kombination ließ sie irgendwie größer erscheinen als ihre einsfünfundsechzig und noch schlanker, als sie ohnehin mit hundertvier Pfund war.
Als sie den Kaffee getrunken hatte, einen Joghurt gegessen und getrocknetes Katzenfutter in Toms Schüssel geschüttet hatte, zog sie ihren Trenchcoat an. Dann verstaute sie ihre Handtasche und die Lunchbrote, die sie ebenfalls schon am Abend zuvor vorbereitet hatte, in ihrer Aktentasche und verließ die Wohnung. Sie brauchte einen Augenblick, um die verschiedenen Schlösser an ihrer Tür zu sichern, eine Hinterlassenschaft des Vormieters. Sie wandte sich zum Aufzug und drückte den Knopf "Ab".
Wie auf ein Stichwort hörte sie in dem Moment, als sich der altersschwache Aufzug quietschend nach oben bewegte, das Klicken der Schlösser von Debra Englers Tür. Laurie drehte den Kopf und sah, wie die Tür der vorderen Wohnung sich einen Spalt öffnete und die Sicherheitskette spannte. Debras blutunterlaufenes Auge spähte hinaus. Über dem Auge war ein Gewirr von grauem Kraushaar.
Laurie erwiderte angriffslustig den Blick des aufdringlichen Auges. Es war, als stünde Debra bei jedem Laut im Gang hinter der Tür. Die ständige Aufdringlichkeit ging Laurie auf die Nerven. Es erschien ihr wie eine Verletzung ihrer Privatsphäre, wenn der Gang auch Gemeineigentum war.
"Sie nehmen besser einen Schirm mit", rief Debra mit ihrer kehligen Raucherstimme.
Die Tatsache, daß Debra recht hatte, steigerte Lauries Gereiztheit noch. Sie hatte tatsächlich ihren Schirm vergessen. Ohne ein Zeichen der Anerkennung, um Debras aufreizende Wachsamkeit nicht etwa noch zu fördern, ging Laurie zur Wohnungstür zurück und widmete sich dem komplizierten Vorgang, ein Schloß nach dem andern aufzuschließen. Als sie fünf Minuten später den Aufzug betrat, sah sie, daß Debra immer noch aufmerksam Ausschau hielt.
Während der Aufzug langsam abwärts fuhr, schwand Lauries Gereiztheit. Ihre Gedanken wanderten zu dem Fall, der sie über das Wochenende am meisten beschäftigt hatte: dem zwölfjährigen Jungen, der von einem Softball auf die Brust getroffen worden war.
"Das Leben ist ungerecht", murmelte Laurie vor sich hin, als sie an den vorzeitigen Tod des Jungen dachte. Der Tod eines Kindes war so schwer zu begreifen. Sie hatte gedacht, das Medizinstudium würde sie irgendwie gegen solche Sinnlosigkeiten abhärten, aber dem war nicht so. Auch ihre Assistenzzeit in der Pathologie hatte das nicht vermocht. Und jetzt, wo sie in der Gerichtsmedizin arbeitete, waren diese Tode noch schwerer zu ertragen. Und es waren so viele! Bis zu dem Unfall war das Softballopfer ein kräftiger Junge gewesen, strotzend vor Gesundheit und Energie. Sie sah den kleinen Körper noch vor sich auf dem Seziertisch; ein Bild der Gesundheit, scheinbar schlafend. Aber sie hatte zum Skalpell greifen und ihn wie einen Fisch ausnehmen müssen.
Laurie schluckte hart, als der Aufzug mit einem Ruck zum Stehen kam. Fälle wie der des kleinen Jungen ließen sie an der Richtigkeit ihrer Berufswahl zweifeln. Sie fragte sich, ob sie nicht besser in die Pädiatrie gegangen wäre, wo sie mit lebenden Kindern zu tun gehabt hätte.
Im Grunde war Laurie für Debras Rat dankbar, als sie sah, was für ein Tag es war. Der Wind blies kräftige Böen, und der angekündigte Regen hatte bereits eingesetzt. Der Anblick ihrer Straße gerade an diesem Tag ließ sie auch an einer guten Wahl ihres Wohnorts zweifeln. Die mit Abfällen übersäte Straße bot kein schönes Bild. Vielleicht hätte sie in eine jüngere, sauberere
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