Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Stadt wie Atlanta gehen sollen oder in eine Stadt mit ewigem Sommer wie Miami. Laurie spannte den Schirm auf und stapfte, sich gegen den Wind stemmend, in Richtung First Avenue.
Sie dachte an eine der ironischen Seiten ihrer Berufswahl. Sie hatte sich aus mehreren Gründen für die Pathologie entschieden. Zum einen hatte sie gedacht, daß geregelte Arbeitszeiten es ihr erleichtern würden, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Aber das Problem war, daß sie gar keine Familie hatte, wenn sie von ihren Eltern absah, die ja nicht wirklich zählten. Sie hatte nicht einmal eine feste Beziehung. Laurie hatte nie gedacht, daß sie mit zweiunddreißig noch keine eigenen Kinder haben, geschweige denn, daß sie noch unverheiratet sein würde.
Eine kurze Taxifahrt mit einem Fahrer, dessen Nationalität sie nicht einmal erahnen konnte, brachte sie zur Ecke First Avenue und 30th Street. Sie war erstaunt, daß sie ein Taxi bekam. Im allgemeinen bedeutete die Kombination Regen und Stoßzeit: keine Taxis. An diesem Morgen war jedoch gerade eins frei geworden, als sie zur First Avenue kam. Aber auch wenn sie keins bekommen hätte, wäre das kein Unglück gewesen. Es war einer der Vorteile, nur elf Häuserblocks vom Arbeitsplatz entfernt zu wohnen. An vielen Tagen ging sie hin und zurück zu Fuß.
Nachdem Laurie den Fahrpreis gezahlt hatte, lief sie die Treppe zum Gerichtsmedizinischen Institut hinauf. Das sechsstöckige Gebäude wurde von den übrigen Gebäuden des Medical Center der New York University und dem Komplex des Bellevue Hospital überragt. Die Fassade bestand aus blauglasierten Ziegelsteinen, hatte Aluminiumfenster und unschöne moderne Türeinfassungen.
Normalerweise beachtete Laurie das Gebäude nicht, aber an diesem regnerischen Novembermontag entging es ihrer Kritik ebensowenig wie ihr Beruf und ihre Straße. Es war ein deprimierendes Bauwerk. Das mußte sie zugeben. Kopfschüttelnd fragte sie sich, ob ein Architekt wirklich mit dieser Arbeit zufrieden sein konnte, als sie bemerkte, daß die Empfangshalle voller Menschen war. Die Eingangstür stand trotz der morgendlichen Kälte offen, und man konnte sehen, wie Zigarettenrauch träge ins Freie entwich.
Erstaunt drängte Laurie sich durch die Menge und bahnte sich mit einiger Mühe einen Weg zum Eingang in den inneren Bereich. Marlene Wilson, die Empfangsdame, war offensichtlich überfordert, denn mindestens ein Dutzend Menschen drängte sich vor ihrem Schreibtisch und bestürmte sie mit Fragen. Die Medien waren eingefallen, komplett mit Kameras, Tonbandgeräten, Camcordern und Blitzlicht. Zweifellos war etwas Außergewöhnliches geschehen.
Mit einigem Gestikulieren schaffte sie es, Marlene auf sich aufmerksam zu machen, die ihr mit dem Summer die Tür öffnete. Sie empfand ein Gefühl der Erleichterung, als die sich schließende Tür das Stimmengewirr und den beißenden Zigarettenrauch aussperrte.
Laurie warf einen kurzen Blick in den tristen ID-Raum, in dem die Angehörigen zur Identifizierung der Toten geführt wurden, und war etwas überrascht, ihn leer zu finden. Bei dem Aufruhr da draußen hatte sie gedacht, hier Leute anzutreffen. Achselzuckend ging sie weiter zum ID-Büro.
Die erste Person, die Laurie traf, war Vinnie Amendola, einer der technischen Assistenten. Ohne den Auflauf im Empfangsbereich zu beachten, trank Vinnie aus einem Plastikbecher Kaffee und las die Sportseiten der New York Post. Die Füße hatte er gegen die Kante eines der grauen Metallschreibtische gestemmt. Wie vor acht Uhr morgens üblich, war Vinnie der einzige im Raum. Er hatte die Aufgabe, Kaffee für die Mitglieder des Kaffee-Pools zu kochen. Eine große Kaffeemaschine stand im ID-Büro, einem Raum, der neben seinen eigentlichen Funktionen auch die eines informellen morgendlichen Versammlungsorts hatte.
"Was ist denn hier los?" fragte Laurie, während sie den Plan für die heutigen Autopsien studierte. Auch wenn sie nicht für diese Arbeit eingeteilt war, wollte sie doch wissen, welche Fälle vorlagen.
Vinnie ließ die Zeitung sinken. "Ärger", sagte er.
"Was für Ärger?" fragte Laurie. Durch die Tür zur Telefonzentrale sah sie, daß die beiden Sekretärinnen der Tagschicht pausenlos an ihren Telefonen beschäftigt waren. Auf der Anzeigetafel vor ihnen blinkte es wartende Anrufer. Laurie goß sich einen Becher Kaffee ein.
"Wieder ein Mord an einer Schülerin", sagte Vinnie. "Ein junges Mädchen, offenbar von ihrem Freund erwürgt. Sex und Drogen. Das Übliche,
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