Montgomery u Stapleton 06 - Crisis
Berufsethik.«
»Vielleicht könnten Sie das näher erläutern.«
»Natürlich«, antwortete Dr. Brown und fiel zurück in seine vertraute professionelle Rolle. »Neben dem Wohlergehen des Patienten und der Patientenautonomie bildet das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit eine entscheidende Grundlage der ärztlichen Berufsethik im einundzwanzigsten Jahrhundert. Concierge-Medizin steht in absolutem Gegensatz zu dem Bemühen, Diskriminierung im Gesundheitswesen abzuschaffen, dem entscheidenden Punkt im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit.«
»Glauben Sie, dass Ihre strikten Überzeugungen in diesem Bereich Ihre Unvoreingenommenheit gegenüber Dr. Bowman beeinträchtigen könnten?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Vielleicht könnten Sie uns das erklären, da auch diese Aussage dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft.«
»Als gut informierter Internist weiß Dr. Bowman, dass sich die Symptome eines Herzinfarkts bei einer Frau von den klassischen, bei Männern beobachteten Symptomen unterscheiden. Sobald ein Internist bei einer Frau, vor allem einer Frau, die bereits die Wechseljahre hinter sich hat, einen Herzinfarkt vermutet, sollte er so reagieren, als sei es tatsächlich ein Herzinfarkt, bis das Gegenteil erwiesen ist. Eine Parallele dazu findet man in der Kinderheilkunde: Sobald einem Arzt bei einem kranken Kind der Verdacht auf Meningitis kommt, ist er verpflichtet, den Patienten so zu behandeln, als wäre die Diagnose bereits bestätigt, und eine Lumbalpunktion durchzuführen. Das Gleiche gilt auch für eine Frau bei Verdacht auf Herzinfarkt. Dr. Bowman vermutete einen Herzinfarkt, und dementsprechend hätte er auch handeln müssen.«
»Dr. Brown«, sagte Randolph. »Man hört oft, dass die Medizin eher eine Kunst sei als eine Wissenschaft. Können Sie uns sagen, was das bedeutet?«
»Das bedeutet, dass die reine Sachinformation nicht ausreicht. Ein Arzt muss auch sein Urteilsvermögen einsetzen, und da dies kein objektives Feld ist, das man studieren könnte, wird die Medizin als eine Kunst bezeichnet.«
»Die rein wissenschaftliche medizinische Fachkenntnis hat also ihre Grenzen.«
»Ganz genau. Keine zwei Menschen sind vollkommen gleich, nicht einmal eineiige Zwillinge.«
»Würden Sie sagen, dass die Situation, der sich Dr. Bowman am Abend des 8. September 2005 gegenübersah, als er zum zweiten Mal am gleichen Tag zu einer Frau gerufen wurde, von der er wusste, dass sie Hypochonderin war, ein hohes Maß an Urteilsvermögen erforderte?«
»Alle Situationen, denen sich ein Arzt gegenübersieht, erfordern Urteilsvermögen.«
»Mich interessiert im Moment nur der fragliche Abend.«
»Ja. Sie hat wohl ein hohes Maß an Urteilsvermögen erfordert.«
»Danke, Doktor«, sagte Randolph und sammelte seine Notizen zusammen. »Keine weiteren Fragen.«
»Der Zeuge ist entlassen«, erklärte Richter Davidson. Dann wandte er sich an die Geschworenen: »Es ist fast zwölf, und mir scheint, als könnten Sie alle etwas zu essen gebrauchen. Bei mir zumindest ist das der Fall. Vergessen Sie nicht, dass Sie mit keinem Außenstehenden und auch untereinander nicht über den Prozess reden dürfen.« Er schlug mit seinem Hammer. »Das Gericht vertagt sich auf halb zwei.«
»Bitte erheben Sie sich«, rief der Gerichtsdiener, als der Richter von seinem Platz herunterkam und in seinem Büro verschwand.
Kapitel 11
Boston, Massachusetts
Mittwoch, 7. Juni 2006
12.30 Uhr
A lexis, Craig und Jack hatten einen kleinen, lauten Sandwichladen am weitläufigen Platz des Government Center gefunden. Sie hatten auch Randolph eingeladen, sie zu begleiten, aber er hatte sich entschuldigt, da er sich auf den Nachmittag vorbereiten müsse. Es war ein herrlicher Spätfrühlingstag, und der Platz war voll von Menschen, die ihren engen Büros entflohen waren, um ein wenig Sonnenschein und frische Luft zu genießen. Boston erschien Jack sehr viel eher als New York als eine Stadt, in der sich das Leben draußen abspielte.
Anfangs hatte Craig wie üblich dumpf vor sich hin gebrütet, doch nach und nach hatte er sich entspannt und sich an ihrem Gespräch beteiligt.
»Du hast die Autopsie noch gar nicht erwähnt«, sagte Craig plötzlich. »Wie sieht’s damit aus?«
»Im Moment liegt alles in den Händen des Bestattungsunternehmers«, antwortete Jack. »Er muss die Unterlagen zum Gesundheitsamt bringen und die Öffnung des Grabs und den Transport des Sargs organisieren.«
»Es ist also immer noch eine Option?«
»Wir
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