Monuments Men
Übersee geschickt werden und ein stolzer und disziplinierter, aber auch von Angst erfüllter Soldat werden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich sein Leben anders entwickeln würde. Bislang hatte er noch keine Verantwortung getragen. Am Morgen fuhr er zur Schule. Nach der Schule arbeitete er in einer Fabrik, damit seine Familie über die Runden kam. Vor dem Krieg hatte die Firma Shiman Manufacturing Schmuck hergestellt jetzt fertigte sie Bestecke für Armeezahnärzte.
Wie erwartet, kam der Einberufungsbescheid nach der Abschlussfeier und am 11. August 1944 meldete sich Harry Ettlinger zu seiner Grundausbildung. Die Alliierten kämpften in der Normandie, und Harry zweifelte nicht daran, dass seine Mutter jeden Tag in der Zeitung die Landkarte mit den Frontverläufen in Europa studieren würde. Harry und seine Kameraden verfolgten den Vormarsch der Armee nicht. Er spielte für sie keine Rolle. Sie würden nach Europa gehen, sie würden kämpfen, und einige von ihnen würden sterben. Wo genau dies geschah, hatte keine Bedeutung.
Vorläufig befanden sie sich an einem Ort namens Macon in Georgia. Ihr Leben hatte täglich den gleichen Ablauf: früh aufstehen waschen und anziehen, die Koje tipptopp herrichten, frühstücken, hierhin marschieren, dorthin marschieren, ein M1-Gewehr zerlegen und wieder zusammensetzen, »ja, Sir«, »nein, Sir«, marschieren, essen, marschieren, putzen, sich schlafen legen, wieder früh aufstehen und alles wieder von vorn. Sie verbrachten den ganzen Tag in Einheiten aus zehn Männern, die sich der Größe nach aufstellen mussten (Harry war der vierte), und diese Einheit war ihre ganze Welt.
Mitte November musste Harry Ettlinger gegen Ende einer Ausbildungsstunde beim Appell vortreten. »Sind Sie Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, Schütze Ettlinger?«, fragte ihn ein Offizier.
»Nein, Sir.«
»Aber Sie sind Deutscher, richtig?«
»Deutscher Jude, Sir.«
»Wie lange leben Sie schon in diesem Land?«
»Fünf Jahre, Sir.«
»Dann kommen Sie mit.«
Einige Stunden später leistete Harry Ettlinger vor einem örtlichen Richter seinen Eid als US-Staatsbürger. Sechs Wochen später wartete er in Givet in Belgien, nur wenige Kilometer von der Grenze zu seinem Heimatland entfernt, auf den Marschbefehl für seine Einheit, die an die Front geschickt werden sollte.
Givet war ein Ersatzdepot, das von den Männern auch als »Rekonvaleszenteneinheit« bezeichnet wurde, ein Aufmarschplatz für die Ersatztruppen, mit denen jene Kampfeinheiten aufgefüllt wurden, die besonders große Verluste erlitten hatten. In Givet lebten Harry und tausend weitere Soldaten in Dreifachschlafkojen die in einer riesigen Scheune untergebracht waren. Es war der kälteste Januar seit Beginn der Wetteraufzeichnungen; die Wärme von den Kohleöfen stieg nach oben, kalter Wind blies durch die Ritzen der alten Holzbretter. Der Schnee lag so hoch, dass Harry keinen einzigen grünen belgischen Grashalm zu Gesicht bekam. Der Himmel klarte sich zwei Wochen lang nicht auf, und als schließlich doch die Wolkendecke aufriss, sah man, wenn man ins Freie trat, Flugzeuge, die von einem Horizont zum nächsten flogen. Es war das erste Mal, dass Harry die eindrucksvolle Kriegsmaschinerie der westlichen Alliierten zu Gesicht bekam. Die Ardennenoffensive der Deutschen war gescheitert. Sie waren bei Bastogne zurückgeschlagen worden, und die Alliierten hatten ihren Vormarsch wieder aufgenommen. Die Deutschen wollten nicht kapitulieren, nicht, bevor alle ihre Städte zerstört und dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Tausende alliierte Soldaten würden noch sterben müssen beim Kampf um jeden Zentimeter Boden, und auch Tausende deutscher Soldaten und Zivilisten. Ein klarer Himmel bedeutete Bomben, Tod und, was für die Männer in Givet im Moment wichtiger war, eisige Temperaturen. Diese Nacht war die kälteste, die Harry bisher erlebt hatte.
Einige Nächte später kamen die erwarteten Befehle. Die Ersatztruppen sollten ausrücken. Am nächsten Morgen reihten sich mehr als hundert Lastwagen vor der Scheune auf. Die Offiziere riefen die Nummern der Einheiten, und die Männer stiegen mit ihren Säcken, Waffen und ihrer sonstigen Ausrüstung auf die Wagen. Sie hatten keine Ahnung, wohin sie gebracht werden würden, sie wussten nur, dass sie zur 99. Infanteriedivision stoßen sollten, die irgendwo an der Front lag. Harry saß mit den übrigen acht Männern seiner Einheit (einer war auf rätselhafte Weise verschwunden) auf dem
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