Monuments Men
Seilstücke schätzen lernte.
Ein weiterer Schüler von George Stout, dachte Hancock.
Am nächsten Tag kamen die Särge an die Reihe. Frau von Hindenburg, die Leichteste, wurde als Erste nach oben gebracht. Die Entfernung von der Sargkammer zum Grubenschacht betrug 400 Meter. Einige Soldaten bekreuzigten sich, als sich der Sarg in dem klapprigen Aufzug langsam nach oben bewegte. »Tiefer wird sie niemals mehr beerdigt werden«, erklärte Stout salbungsvoll.
Als Nächster kam der Soldatenkönig Wilhelm und dann Feldmarschall von Hindenburg mit Walker Hancock auf dem Sargdeckel. Nun befanden sich nur noch die sterblichen Überreste Friedrichs des Großen und dessen massiver Stahlsarg unter Tage. Die Ingenieure hatten darauf hingewiesen, dass dieser Sarg nicht in den Aufzug passen würde, aber Stout hatte sie daran erinnert dass der Sarg, wenn man ihn in den Schacht hatte hinabbringen können, auch wieder heraufgeschafft werden konnte. Sie maßen noch einmal nach und stellten fest, dass noch ungefähr ein Zentimeter Spielraum blieb, wenn man den Sarg passgenau in den Aufzug schob.
Unglücklicherweise wog der Sarg nach ihrer Schätzung zwischen 550 und 650 Kilogramm. Zuerst musste er etwas zur Seite geschoben werden, damit man Schlingen darunter ziehen konnte. Dann mussten 15 Männer ihn anheben, durch den Eingang der Kammer schieben und ihn dann um die Ecke in den dunklen, unebenen und feuchten Grubenschacht bugsieren. Der Leichenzug bewegte sich langsam, die Sargträger ächzten bei jedem Schritt unter ihren Stricken. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis das große stählerne Monstrum zentimetergenau in den Aufzug verfrachtet war. Gegen 23 Uhr schließlich war es geschafft, und der Transport nach oben konnte beginnen. Für die Bergung der vier Särge hatten die Männer einen ganzen Tag gebraucht.
Der Aufzug bewegte sich ein paar Zentimeter nach oben, dann blieb er stehen. George Stout und sechs der Männer kletterten auf das untere Gestänge des Förderwagens, dann setzte sich der Aufzug wieder in Bewegung. Er brauchte 14 Minuten für die 550 Meter, und die Männer hofften nur, dass der alte Aufzug das Gewicht von einer Tonne bewältigen konnte, denn so viel wog seine gesamte Fracht. Als sie hochfuhren, hörten die Männer Musik. Irgendwo über ihnen lief ein Radio, in dem »The Star-Spangled Banner« gespielt wurde. Als der Sarg oben in der dunklen klaren Nacht ankam, folgte ein weiteres Lied: »God Save the King«. Es war der 7. Mai 1945, die Deutschen hatten in Reims bedingungslos kapituliert. Damit war es offiziell: Die Alliierten hatten den Krieg gewonnen.
50
AM ENDE DES WEGES
Altaussee
12. Mai 1945
Die Nachricht kam unerwartet: Die 3. US-Armee war nach Süden geschwenkt. Sie, und nicht die 7. US-Armee, würde in die Berge und nach Altaussee ziehen. James Rorimer, der eine bewaffnete Expedition zur Saline zu schicken geplant hatte, sollte nun nach Berchtesgaden fahren, wo Gerüchte über Plünderungen durch Flüchtlinge ebenso wie über dort aufgehäufte Schätze die Runde machten. Altaussee lag nun plötzlich wieder im Zuständigkeitsbereich von Robert Posey und Lincoln Kirstein. Unglücklicherweise waren sie jedoch mehr als 300 Kilometer von dort entfernt und noch mit einem anderen Einsatz beschäftigt.
Ausnahmsweise brauchten die Monuments Men diesmal nicht lange, um die erforderlichen Papiere und einen Wagen zu erhalten, obwohl die Informationen aus dem Gebiet nur bruchstückhaft waren und es keine Berichte aus der Saline direkt gab. Dann waren sie schon unterwegs durch die verwüsteten Landschaften Süddeutschlands, wo sogar die Straßen bombardiert und aufgerissen worden waren. Mangels Fahnen hängte die deutsche Zivilbevölkerung als Zeichen der Kapitulation weiße Kopfkissenbezüge in die Fenster ihrer Häuser, aber trotzdem erschienen die Fenster schwarz und unheilvoll. Es gab zahlreiche Berichte über Soldaten, die in scheinbar friedlichen Dörfern beschossen und getötet worden waren; über Angehörige der Hitlerjugend, die sich, getrieben von kindlicher Leidenschaft und Unwissenheit, hinter Fenstern in den oberen Stockwerken von Häusern versteckten und ihre Gewehre auf die schmalste Stelle der darunter vorbeiführenden Straße richteten. Unter den Flüchtlingen befand sich eine große Zahl von Soldaten, vor allem von der Ostfront, die ihre Uniformen ausgezogen hatten, um sich unauffällig unter die Zivilisten mischen zu können. Viele Flüchtlinge waren von Verzweiflung und oft auch von
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