Moonlit Nights
Schulweg entlang, da
stockte ich plötzlich, und meine hastigen Schritte wandelten sich
schlagartig in angewurzeltes Stehenbleiben um.
Liam stand unter der Laterne, die die Stelle markierte, an der
unsere Schulwege zusammenführten. Seine Wuschelhaare waren
nass, wie auch die Schultern seines langen grauen Mantels.
Dennoch tat das seinem perfekten Aussehen keinen Abbruch. Er
hielt sich die Hände vor den Mund.
Scheinbar blies er hinein, um sie zu wärmen und dann rieb er sie
gegeneinander. Er schien schon länger da zu stehen.
Verunsichert, warum er wohl dort wartete, ging ich ihm langsam
entgegen. Wollte er sich bei mir über den gestrigen Abend
beschweren? Wollte er mir sagen, wie schrecklich meine Familie
war? Dass er nie wieder auch nur einen Fuß über unsere Schwelle
setzen würde?
»Nun mach schon!«, hetzte er mich von Weitem. Wie von selbst
beschleunigten sich meine Schritte wieder. Trotz des unguten
Gefühls machte mein Herz einen kleinen Hopser, dass er auf mich
gewartet hatte. Wenigstens hatte er so viel Anstand – obwohl ich
das nie infrage gestellt hatte – mir das hier persönlich unter vier
Augen zu sagen, anstatt mich vor der ganzen Klasse
herunterzuputzen – was natürlich sein gutes Recht gewesen wäre.
Wer weiß, wie ich nach so einem erschreckenden Abend
reagieren würde.
»Ich dachte schon, du lässt mich hier festfrieren«, begrüßte er
mich mit einem breiten Grinsen. Seine ebenmäßigen weißen
Zähne brachten sein unglaublich schönes Gesicht zum Strahlen.
Ich merkte, wie ich ihn anstarrte und wandte mein Gesicht ab.
»Ich … wusste nicht … dass du … auf mich wartest …«,
stammelte ich und hielt den Blick dabei gesenkt.
»Natürlich warte ich.« Liam schien entrüstet zu sein.
»Ich wollte heute Morgen gerne mit dir zusammen gehen.« Oh …
da war es wieder. Dieses ungute Gefühl. Ich straffte meine
Schultern und blickte ihm in seine dunkelbraunen Zartbitteraugen.
Sie waren atemberaubend schön, gar keine Frage. Doch
irgendetwas war an ihnen anders als bei normalen Menschen.
Normale Menschen? War Liam nicht normal? Ich lächelte über
meine Wortwahl. Natürlich war er nicht normal. Aber nicht in
dem Sinne, wie dieses Wort eigentlich gebraucht wurde. Bei
»nicht normal« dachte man an verrückte Menschen – wie zum
Beispiel meine Mutter. Womit wir auch schon beim Thema
wären. Liam hingegen war nicht normal, weil er viel toller war,
als jeder andere Mensch. Ich starrte schon wieder. Irgendwie
musste ich versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich
versuchte irgendetwas in seinem Gesicht zu finden, was nicht
ganz so gut aussehend war und beschloss, mich darauf zu
konzentrieren – keine Chance! Seine blassrosa Lippen waren
wohlgeformt und wirkten weich, seine markanten Gesichtszüge
ließen ihn sehr maskulin aussehen und selbst seine dunklen
Augenbrauen waren ästhetisch geformt und nicht so
Theo-Weigel-mäßig, wie die meiner meisten männlichen
Klassenkameraden. Okay, ich gab auf.
Ein Mensch mit Liams Aussehen musste sich wohl damit
abfinden, dass er ständig hirnlos angeschmachtet wurde. Solange
mir dabei keine Spucke aus dem Mund tropfte, war das ja alles
noch irgendwie zu verschmerzen. Ich versuchte einfach meine
Gedanken halbwegs beisammen zuhalten und wartete auf meine
Predigt. Doch Liam schaute mich ebenfalls erwartungsvoll an.
Unsicher, ob ich etwas sagen sollte, schwieg ich lieber.
»Wenn du das überhaupt willst …«, sagte er leise und seine
Stimme klang ein bisschen traurig, so, als erwartete er eine
negative Antwort.
Sofort überlegte ich, was Liam vorhin zu mir gesagt hatte, bevor
ich in meinen hirntoten Zustand abgeglitten war. Er sollte nicht
traurig sein. Und schon gar nicht wegen mir.
Was hatte er also gesagt? Ich ließ seinen kurzen Monolog von
vorhin Revue passieren und erinnerte mich. Er hatte gesagt, er
wollte heute Morgen gerne mit mir zusammen gehen. Dann setzte
ich diesen Teil mit dem Satz von eben zusammen. »Wenn du das
überhaupt willst.«
War er noch bei Trost?! Selbstverständlich wollte ich mit ihm zur
Schule gehen. Ich würde mit ihm überall hingehen!
Und genauso platzte es aus meinem Mund heraus.
»Natürlich will ich!« Erschrocken über meine ungehaltene
Offenbarung, die auch noch in einer Lautstärke erfolgte, in der es
womöglich die ganze Nachbarschaft gehörte hatte, fügte ich
schüchtern ein »wenn du das auch willst« hinzu. Meine Wangen
wurden rot. Das spürte ich ganz
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