Moonlit Nights
Oberschenkel (der Oberschenkel seines Hinkebeins) war völlig
zerfetzt. Auch wenn die Verletzung zugeheilt war, konnte man
deutlich sehen, dass ein großes Stück Fleisch fehlte. Fragend
schaute ich ihn an. »Eine Begegnung mit einem Werwolf läuft
nicht immer so glimpflich ab wie bei dir, Emma …«
Konnte das alles wahr sein? War Liam tatsächlich ein Werwolf?
So etwas gab es doch überhaupt nicht. Oder doch? Teilnahmslos
blickte ich aus dem Fenster. »Und jetzt?«, fragte ich mit zittriger
Stimme. »Jetzt fahr ich dich nach Hause und du bleibst in deinem
Zimmer UND du kommst vor morgen früh nicht mehr heraus.
Werwölfe haben eine besonders gute Nase, wenn es um ihre
Auserwählte geht.« Officer Dewey zog sich die Hose wieder über
die grässliche, alte Fleischwunde und startete den Motor. »Wir
müssen zurück zu Liam! Du hast ihn angeschossen!« Ich konnte
nicht verhindern, dass meine Stimme mehr Vorwurf als
Dankbarkeit enthielt. Anstatt froh darüber zu sein, dass David mir
das Leben gerettet hatte, konnte ich momentan nichts anderes für
ihn empfinden als Hass. Er hatte meinen Freund angeschossen,
der jetzt irgendwo im Wald lag und verblutete. Und das Schlimme
war, David schien das nicht die Bohne zu interessieren. Tränen
stiegen mir in die Augen. Liam sollte ein Werwolf sein. Ich ließ
das erst einmal sacken. So eine Info war beim besten Willen nicht
leicht zu verdauen. Doch andererseits, wen kümmerte das? War
Liam nicht das Beste, was mir je im Leben passiert war? Er hatte
mich nie schlecht behandelt und hätte er die kleine Tatsache, dass
er ein Werwolf war, heute nicht vergessen, hätte er mich nie in
Gefahr gebracht. Vermutlich hätte ich es nicht einmal
herausgefunden, wenn ich nicht so dickköpfig gewesen und ihm
einfach gefolgt wäre. Gut, vielleicht war es mir nicht ganz so egal,
wie ich mir selbst weismachen wollte, doch ich liebte Liam. Das
war so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Rest würde sich
schon irgendwie finden. Ich musste ihm helfen! »Fahr mich sofort
zurück zum Wald«, forderte ich, verschränkte meine Arme vor
der Brust und starrte stur geradeaus. Ich fand, das ließ mich
entschlossener wirken. Jedenfalls tat ich das zu Hause immer,
wenn ich meinen Willen durchsetzen wollte und meistens
funktionierte es sogar. David schaute mich verächtlich an. »Du
weißt, was du da redest, ja? Entweder bist du krank oder
verrückt.« Er nahm seine Hand und legte sie mir prüfend auf die
Stirn. »Fieber scheinst du keins zu haben. Also bleibt nur die
zweite Möglichkeit. Du musst verrückt sein!« Wütend schlug ich
seine Hand weg. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ein
Möchtegernhilfssheriff, der sich über mich lustig machte.
»Wenn du mich nicht fährst, lauf‘ ich eben.« Ich langte nach dem
Türgriff und versuchte die Tür zu öffnen, um hochnäsig davon zu
stolzieren, aber ich saß dummerweise in einem Polizeiwagen. War
ja klar, dass alle Türen außer der Fahrertür nur von außen geöffnet
werden konnten. »Lass mich raus!«, schrie ich David an. Dicke
Tränen rollten mir über die Wangen. Ich konnte sie nicht mehr
zurückhalten. Nachdem ich den ersten Schrecken über Liams
wahres Ich überwunden hatte und merkte, dass selbst diese
Erkenntnis meine Liebe zu ihm nicht schmälern konnte, hatte ich
schreckliche Angst um ihn. Was war, wenn wir nun zu spät
kamen? Und alles nur, weil ich nicht auf ihn gehört habe. Wäre
ich zu Hause geblieben, so wie Liam es verlangt hatte, wäre das
alles nie passiert. Wieso musste ich meine vorwitzige Nase auch
mit Vorliebe in Sachen stecken, die mich nichts angingen?
Entsetzliche Schuldgefühle plagten mich plötzlich. Ich fühlte
mich verdammt schlecht.
»Emma … mach’ dir keine Sorgen.« David legte freundschaftlich
seinen Arm auf meine Schulter. Ich wollte seine Hand nicht dort
haben, doch ich hatte keine Kraft mehr, mich in irgendeiner
Weise zur Wehr zu setzen. Die Trauer hatte mich komplett
überrollt. Schluchzend starrte ich aus dem Fenster. »Ich kann
Liam gar nicht umbringen.« Er lächelte mich aufmunternd an.
Wie meinte er das jetzt schon wieder? David schien das dicke
Fragezeichen über meinem Kopf bemerkt zu haben. »Einen
Werwolf kann man nicht töten. Jedenfalls nicht so ohne Weiteres.
Ich weiß das, ich war selbst mal einer.« Erschrocken starrte ich
ihn an. War ich nur noch von Verrückten umgeben? »Keine
Sorge, der Werwolf, der mich gebissen hat, ist längst tot.
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