Moonsurfer
Augenblick, als würde es seinem Opfer ein paar letzte Sekunden auf dieser Welt gönnen wollen, dann nimmt es Fahrt auf, diesmal jedoch mit der Beschleunigung eines Torpedos.
Steven schließt die Augen und kann nichts anderes mehr tun, als den Angriff zu erwarten.
Doch nichts geschieht.
Er reißt die Augen auf. Der Hai ist verschwunden. Er blickt sich nervös um, wirft den Kopf viel zu hektisch nach rechts, nach links und nach hinten und kippt dabei beinahe vom Brett.
Nachdem er sich wieder gesammelt hat, kauert er auf seinem Surfboard und sieht so verloren aus wie ein Grill-Hähnchen auf einem Teller. Zitternd hockt er da und betet, dass sich das Vieh endgültig verzogen hat.
Aber was, wenn der Hai jetzt von unten kommt? Wenn er sich gar nicht verzogen hat, sondern nur deshalb abgetaucht ist, um aus der Tiefe des Ozeans heraus Anlaufzu nehmen? Was, wenn er jetzt gerade beschleunigt, um senkrecht nach oben zu stoßen und ihn in der Luft zu zerrreißen?
Wie in diesen Great-White-Shark -Filmen …
Sein Leben in Europa war ziemlich unspektakulär gewesen, keinerlei Stunts, die einen Clip auf YouTube wert gewesen wären. Den einen oder anderen Nervenkitzel hätte er sich schon gewünscht. Aber nichts, was über einen Fünfer-Looping oder eine kleine Alligatorfütterung im Zoo hinausging. Und erst recht nichts, was dem hier gleichkommt.
Minuten vergehen.
Das Mistvieh scheint sich verzogen zu haben! Doch Steven freut sich zu früh, denn schon im nächsten Moment macht er einen Schatten unter sich aus.
»Hau ab!«, brüllt er in seiner Verzweiflung die Wasseroberfläche an. »Verpiss dich!«
Seine Augen versuchen vergeblich, die Dunkelheit unter dem Board zu durchdringen, doch selbst der Mond kann die nachtschwarze See nicht aufhellen.
In diesem Moment flackert etwas weiter südlich ein schwaches Licht auf und tanzt über dem Horizont, etwa so, wie das Feuerzeug in Grumbles Knochenhand. Aber das Licht ist weit entfernt, dort, wo sich dunkel die mächtige Silhouette des Dreimasters abzeichnet, dessen Rigg schräg in den Nachthimmel ragt.
Steven hört eine ferne, heisere Stimme: »Heee, is da wer?«
Steven wäre erschrocken, wenn er sich nicht schon in einem so schrecklichen Angstzustand befinden würde, dass keine Steigerung mehr möglich ist.
Das muss die Küstenwache sein!
»Hiiiiiiiiiiiierher! Hiiiiiiier bin ich!«, kreischt er mit verzweifelter Stimme in die Nacht.
Weitere Lichtpunkte leuchten auf und beginnen den Tanz des ersten aufzunehmen. Umrisse von Männern an Bord eines Schiffes. Rufe, Befehle.
Steven winkt, während sich die Fingernägel seiner anderen Hand in das alte Holz des Boards graben.
»Hiiiilfee, Hiiiiier, Hiiilf…!«, versucht er es weiter, als der Schatten aus dem Wasser schießt.
Er kommt von hinten und packt Steven am Arm, um ihn in das Dunkel des Meeres zu zerren. Das Board kippt und Steven taucht unter.
Er versucht, sich zu befreien und schlägt und tritt mit seiner freien Hand und mit den Füßen auf das Ungeheuer ein.
Plötzlich lässt das Vieh los. Steven kämpft sich nach oben, saugt mit einem heiseren Schrei Frischluft in seine Lungen und greift nach Moonsurfer. Er wirft seinen unverletzten Arm darüber. Das Wasser um ihn herum ist zu dunkel, um zu erkennen, wie viel Blut er verliert. Er hat keine Schmerzen, also wagt er einen Blick auf die Reste des anderen Armes, der das Ziel der Haiattacke gewesen ist.
Doch der Arm ist völlig unversehrt.
Und bevor er sich darüber Gedanken machen kann, wie das möglich ist, wächst genau vor ihm ein Kopf aus dem Wasser, der schwarz im Mondlicht schimmert. Zwischen nassen Haarsträhnen hindurch starrt Steven das Augenpaar eines Mädchens an.
Eine Seejungfrau!, schießt es ihm durch den Kopf. Oder vielleicht bin ich ja auch tot, und das da ist ein Engel, der ins Wasser gefallen ist.
Doch das Wesen sieht nicht wirklich aus wie ein Engel, während es bis zu den nackten Schultern aus der schimmernden Oberfläche herauswächst. Würde es ein wenig freundlicher blicken, würde es Steven vielleicht an eines dieser Mädchen erinnern, wie er sie von den alten, kitschigen Postkarten aus Hawaii kennt: lange, schwarze Haare, dunkle Haut, fremdartige Tätowierungen.
»B…bist du … also, bin ich …« Aber noch bevor Steven fragen kann, ob er sich bereits im Paradies befindet, schnellt die Seejungfrau - oder der Engel - lautlos aus dem Wasser.
Sie landet quer über Stevens Board und presst blitzschnell eine Hand auf seinen Mund.
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