Moor
des Daumenballens, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hat. Er spürt das pumpende Blut, zählt die Schläge im Takt des Telefons, etwas Mechanisches, wie von einer Maschine, surrend oder schnarrend –
und je lauter dieses Geräusch geworden sei, je näher du Stufe um Stufe der sich schier endlos in die Tiefe windenden Treppe dem Telefontisch gekommen bist, desto unerbittlicher würgte dich die Vorstellung, dass es doch nicht Marga sein würde, die dir gleich durchs Rauschen der Leitung mit ferner, noch ein wenig schwacher Stimme ihr baldiges Kommen ankündigt, sondern harsch und in drohendem Tonfall Marianne, Tanjas Mutter oder die Polizei. Noch nie, liest Marga den letzten Satz, hattest du solche Angst vor dem Telefon.
◆◆
Dass sie ihn liebt. Jetzt, in der Stille, fällt es ihr wieder ein: Das sind die Worte, die an dieser Stelle noch fehlen. Erschöpft schlägt sie das Buch zu. Die Party ist vorbei, alle Fernseher sind abgestellt, auch die fernen Straßengeräusche waren zuletzt verklungen. Durchs Fenster fällt ein schmaler Streifen grauen Morgenlichts. Irgendwann war ein Pulk Betrunkener aus der Haustür getorkelt, sie hatte kaum eine Viertelstunde warten müssen. In Frau Schäfers Wohnung hat sie schnell das Buch und ihre Handtasche mit dem Schlüssel geholt. Sie wollte jetzt lieber ein wenig allein sein. Im Badezimmer brannte noch Licht, Wassergeräusche drangen heraus, ein Plätschern, das Rauschen des Strahls, das dumpfe Hautquietschen auf der Emaille, wie von jemandem, der entspannt badet. Oder war es doch ein Stöhnen gewesen?, denkt sie jetzt. Vom Flur aus hatte sie Frau Schäfer laut Gute Nacht! zugerufen und leise die Tür geschlossen, als keine Antwort kam.
Nun scheint es ihr von oben doch ein wenig zu friedlich; fast fehlt ihr, in dieser plötzlichen Grabesstille, das Lärmen des Apparats. Sollte sie vielleicht noch einmal nach dem Rechtenschauen, und ob Frau Schäfer auch das Wasser abgestellt hat? Die Alte wirkte heute besonders tattrig und wirr. Ein paar Sekunden in der Tür ihres Zimmers stehen und auf ihren Atem lauschen, um sicherzugehen, dass sie schläft und träumt.
Auch sie hätte sich damals gewünscht, dass jemand an ihrem Bett sitzt und Wache hält, auf der Intensivstation des Zeever Krankenhauses, wo der eine Wahnsinn endete und der andere begann. Warum schreibt ihr Junge nicht, was sie ihm damals am Telefon zugesichert hat? Was kostet ihn das schon? Seinem Buch hätte es nicht geschadet, für sie aber wäre es lebensnotwendig. Nur drei kleine Worte, die alles verändern könnten.
Sie erinnert sich genau: Die Krankenschwester hatte ihr die Sprechmuschel an den Mund geschoben. Sie war gerade aus der Bewusstlosigkeit erwacht, in ihrer Nase steckte ein Sauerstoffschlauch, der zu den blinkenden Apparaten führte. Ein Schreiber kritzelte ihre Herzkurve auf ein Papier, das sich in der Ablage staute. Die Schwester trennte es ab, sagte: Machen Sie es kurz. Sie dürfe sich noch nicht anstrengen.
Sie war sich gar nicht sicher, ob Dion überhaupt dort war und ihr zuhörte, am anderen Ende der Leitung, in der es eintönig rauschte. Es hatte ungewöhnlich oft geklingelt, sie zählte das Signal, lange Intervalle, in denen sie wegzusacken drohte und aufschreckte, wenn das nächste Tuten sie aus der Tiefe wieder emporriss. War er überhaupt zu Hause? Hatte Marianne ihn schon zu sich geholt? Oder hob er absichtlich nicht ab, aus Trotz und Wut? Ihr Herz klopfte schneller, sie spürte das Pochen im Rachen, den Schmerz, der vom Auspumpen des Magens rührte. Das Gerät schlug einen grellen Alarmton an. Sie stöhnte auf. Ganz ruhig, sagte die Krankenschwester, sie solle morgen wieder anrufen.
Doch sie hat die Hand weggeschoben und den Hörer zurück an die Lippen gezogen; nach dem Knacken war in der Leitung plötzlich eine andere, tiefere Stille gewesen, als hätte sich dort ein Raum geöffnet. Sie hörte Dion nicht, kein Räuspern oder Atmen, nur dieses erwartungsvolle Schweigen, seine ferne Anwesenheit; noch nie hatte er sich am Telefon mit seinem Namen gemeldet. Sie wusste, dass sie in diesem Moment bei ihm zu Hause war, in der Diele, wo er am Bänkchen stand und in den Hörer lauschte. Da hat sie den Satz geflüstert, nur den einen, der ihr von allen, die sie in diesem Moment hätte sagen wollen, der wichtigste und richtigste schien.
Die Krankenschwester lächelte auf sie herab, nahm ihr schließlich den Apparat aus der Hand und legte auf. Schlafen Sie jetzt, sagte sie; ihr Gesicht war
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