Moor
freundlich und gut, ein Muttergesicht. Sie dämmerte weg.
Steht dir doch, sagt Julius und zupft an der Strickweste. Sie fährt im Sessel hoch. Träumt sie das? Liest sie noch immer im Buch? Wie ist der Kerl hier hereingekommen?
Er drückt sich in die Ecke, äugt schuldbewusst herauf, jetzt ganz der kleine Junge, der einen dummen Streich zugeben muss. Was willst du hier?, schnappt sie mit halb geöffneten Lippen. Dich, beißt er zurück. Sie wehrt seinen Mund ab, dreht sich weg, ich will jetzt schlafen, sagt sie, dann lachend: sie sei schließlich nicht mehr die Jüngste. Sie spürt seine Blicke im Rücken, genießt ihre Pointe, lässt ihn um sie buhlen. Er kriecht in ihre Hände, hinein in den Schlag, der ihr schon in der Schulter vibriert. Sie reißt ihm am Gürtel die Jeans in die Kimme, Julius schreit auf. Ich wette, zischt sie ihm ins Ohr, deine Mutter hat dich das erste Mal abgewichst, da bist du gerade erst zur Schule.
Sieben, und er windet sich in ihrem Griff, er sei gerade sieben geworden, aber der Pimmel habe ihm schon gestanden. Sie zieht den Stecker der Stehlampe aus der Buchse, will es nicht sehen. In der trüben Dunkelheit glaubt sie, wieder das Wasserrauschen zu hören, ein Sickern und Tropfen aus tausend Adern und Kanälchen.
Aber dann hast du sie im Stich gelassen, tadelt sie ihn und zerrt ihm den Gürtel aus den Laschen. Alt und einsam ist sie gestorben, nicht einmal mehr einen Geburtstagsbesuch habe er seiner armen Mutter abgestattet! Julius hascht mit dem Mund nach der Schnalle, sagt: Strafe muss sein, und streckt ihr den Arsch hin.
Der Hieb zerreißt die Stille. Der Junge stürzt der Länge nach in den Flur, kriecht auf allen vieren über den Läufer. Zehn, neun, acht, jault er und biegt sich bei jeder Zahl hoch zur Mutter. Beim zweiten Schlag spürt sie sich stärker, straffer, jünger, sie wächst zurück in ihren Körper, der Rücken jetzt wie ein Panzer, wehrhaft, aufrecht, frei von Schmerz. Bei sechs beginnt er, um Vergebung zu betteln. Was er da stottere? Sprich deutlich mit deiner Mutter!, und Julius, im Liegestütz, haucht: hEs htut hmir so hleid.
Dann, vor der Vier, nach der Julius jetzt fleht, verlässt sie die Kraft. Die Schnalle scheppert zu Boden. Was soll das?, mault er genervt, wenn du jetzt aufhörst, ist alles umsonst. Er steht auf, zerrt die Hose hoch, geht ins Zimmer und fällt breitbeinig in den Sessel. Jetzt müsse sie ihm sagen, dass sie ihn wieder lieb habe. Sonst, murmelt er zerknirscht, kann ich nicht kommen.
Sie lacht auf. Hat er nicht schon einmal so dagesessen, in dieser Pose, mit diesem Blick, sogar sein Hemd, glaubt sie,war dasselbe gewesen, als er bei seinem ersten Besuch ihre Selbstporträts betrachtete und Feuer fing, und sie fühlt, wie ihr Haar sich, genau wie bei Mira, auf dem Kopf zum Dutt verknotet und ihre Brust schwer nach unten sackt auf den Bauch, deine Mutter …, beginnt sie den Satz, bricht ab und grätscht sich über ihn, Beine einer alten Frau, wie gemalt, die Haut weiß und porös, überzogen mit blauem Geäder, ein Meisterwerk, nach so vielen Jahren härtester Schufterei nun endlich vollendet. Da hat er auch schon die Larve in der Hand. Doch sie packt noch nicht zu, hält ihn hin, für Sekunden hängt sie reglos über dem zuckenden Leib, die Hand an seiner Gurgel, das Brennen und Saugen seines Blicks an ihrem Mund, im Ohr sein heiseres Bitten um das Liebeswort, und dahinter, wie ein Echo des Kindergeheuls, weit draußen und gleichzeitig tief aus dem Innern, das Geräusch von Wasser, ein Moment, der ihr wie das Ende aller Bewegungen erscheint, der Punkt, auf den alles hinausläuft.
Sie spürt es erst im Gesicht, dann auf Schultern und Armen. Es strömt über die Wände, in anwachsenden und aufgurgelnden Bächen. Nur noch das, denkt sie, muss sie hinter sich bringen. Ihm seine verdiente Strafe erteilen. Nur noch diesen Absatz schaffen, sich durch die letzten Zeilen kämpfen, dann das Buch zuschlagen, ein weiteres Kapitel ihres Lebens abhaken. Wenn er mit ihr quitt ist und sie mit ihm, wird sie Erika Schäfer aus der Wanne holen, sie abtrocknen, ihr das Haar föhnen, zu einem hübschen Knoten stecken, ihr mit ein wenig Puder die Totenblässe aus dem Gesicht schminken und sie in ihrem Sonntagskleid im Bett aufbahren.
Niemand wird ihr etwas nachweisen können. Im Gegenteil, man wird Verständnis zeigen, Anteil nehmen und ihr danken, sie für ihre Nachbarschaftshilfe sogar loben. Ach herrje, seufzt sie, dabei habe sie Frau Schäfer doch immer
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