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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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seinen Augen hast du den Ausdruck gesucht, der dir seit der Sache an der Jauchegrube nicht mehr aus dem Kopf gegangen war: diesen halb erschrockenen, halb erstaunten Blick, die fremde Schrift, rätselhaft und verheißungsvoll.
    So, denkt er, muss es sein: Dass sich das Opfer wehrt, gehört zum Spiel. Der andere ergibt sich, er wartet, bis der Unterworfene bettelt, dann: zusch! Er hält dich hin. Als er spürt, wie du nachgibst, glaubt er sich am Ziel. Du hörst auf, dich zu sträuben, drückst dich sogar ein wenig in seine Hände. Der Moment ist gekommen; von nun an machst du, was er will.
    Was dann passiert ist, könntest du rückblickend nur mühsam wieder zusammensetzen. Für einen Moment hast du die Übelkeit vergessen. In dem Chaos sei plötzlich noch ein anderes Gefühl gewesen. Erst später, beim Schreiben deines Buches, hast du es verstanden: wie du seine Berührungen abschütteln und gleichzeitig auskosten wolltest. Heute sind diese Gefühle, die von allen Seiten an dir zerrten, auseinandergefallen, zersplittert in eine Reihe mehr oder weniger benennbarer Empfindungen: Wut, Ohnmacht, Scham, Verlangen; Worte, die das, was du damals empfandest, zwar bezeichnen, aber nicht wieder lebendig machen. Heute, schreibst du, gibt es keinen Zweifel daran, dass Hannes die ganzen Wochen oder Monate nur darauf gewartet hatte, dich in seine sadistischen Phantasien zu verwickeln, während du dich nach seiner Nähe gesehnt hast. Dir, dem Erwachsenen, sei es klar und hätte es von Anfang an klar sein müssen. Der Junge aber hat bis zu diesem Moment noch an die geheimnisvollen Zeichen des Kranichgeschwaders geglaubt, die er einst über der Jauchegrube am Himmel gesehen hatte, und für ihn lebte im Rohr noch immer der weiße Rochen.
    Er hat mit allem gerechnet: dass du kratzt, beißt und spuckst. Er hätte dich beruhigt und besänftigt, dir gezeigt, dass du ihm vertrauen kannst, und dann wieder fester zugepackt. In seinem Spiel hat er jeden Schritt geplant. Aber nicht das! Er will noch zur Seite springen, doch da spritzt ihm der Kotzeschwall schon gegen das Bein. Er stolpert zurück, wieder vor, hat die Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle, den so gewissenhaft einstudierten, schon Hunderte von Malen im Kopf geprobten Tanz. Alles entgleitet ihm. Er packt dich am Kragen, hievt dich hoch, verdammte Scheiße!, und schlägt zu, so fest, wie er nie jemanden hat schlagen wollen.
    Vielleicht, schreibst du, hat es an den Tränen gelegen, die dir in die Augen stiegen, dem Blut, das aus der Nase schoss; als der Schmerz in deinen Kopf hineinexplodierte, hast du für einen Augenblick im trüben Wasser tatsächlich den Fisch gesehen. Doch schon im nächsten Moment sei dir schwarz vor Augen geworden. Du hast dich nach Hilfe gesehnt und wolltest Tanja herbeirufen, doch da war nur ein Gurgeln in deiner Kehle.
    Hannes starrt dich erschrocken an. Im Spiegel erhascht er einen Blick auf sein Gesicht, sieht sich eingeschnürt in das Kleid, die Schlafmaske auf der Stirn, Fleischwülste in den Schlitzen, findet seinen Aufzug jetzt lächerlich. Das Gummi quetscht ihm die Brust ein, schneidet in die Haut, er ringt nach Luft. Nur raus aus dem Zeug!, denkt er und fährt herum.
    Tanja hatte etwas gehört. War es der Sturm? Sie riss die Augen auf, wusste für einen Moment nicht, wo sie war. Sie kauerte auf einem Bett, halb liegend, halb sitzend, in einem Berg von Klamotten, die fremd rochen. Fremd auch das rote Kleid an ihrem Körper, das chaotische Zimmer, der ganze Nachmittag zerstückelt, zusammenhanglos, Bruchstücke von Bildern, Gesten, Gelächter wie in einem wirren Traum. Sie horchte in den Flur. Wie unheimlich das Haus klang. Undwie kalt es plötzlich war. Draußen dunkelte es bereits. Ob die Mutter sie suchte? Auf keinen Fall soll Dion etwas sagen, wenn sie hier anruft. Oder hatte sie bereits mit ihm telefoniert? Wo war er überhaupt? Sie rutschte vom Bett, taumelte, kaum dass sie festen Boden unter den Füßen spürte. In ihrem Kopf noch immer das Karussell. Irgendwo knarrte eine Diele. Dion?, rief sie, es kam nur ein Krächzen. Dann hörte sie deinen Schrei.
    Woher du die Kraft genommen hast, Hannes von hinten anzugreifen, ist dir heute ein Rätsel. In diesem Moment hast du nichts gefühlt, nichts gedacht. Dein Körper sei taub, der Kopf leer gewesen. Noch heute, schreibst du, packt dich manchmal eine grundlose Wut, wenn du zu viel trinkst, ein Drang, etwas zu zerschlagen. Heute weißt du, dass es dieses schier unerträgliche Gefühl der

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