Moor
Enttäuschung war, das du damals hast zerschmettern wollen: Hannes’ brutale Zurückweisung, die unauslöschbare Kränkung. Vom einen auf den anderen Moment warst du wieder der sonderliche, von allen gemiedene Junge auf dem Pausenhof, allein neben der Säule, wo dein Blick den Sechzehnjährigen sucht, der dich für deine Bewunderung erst schneidet und dann verdrischt. Da bist du mit geballter Faust auf ihn los.
Tanja sieht dich in der Tür mit Hannes verklammert und wirft sich dazwischen. Sie fühlt sich schuldig. Sie hat deine Eifersucht geschürt, dich mit Lügengeschichten gefüttert und gegen ihn aufgestachelt. Ist sie mit alldem doch zu weit gegangen? Eine Prügelei hat sie nicht gewollt. Dion, lass ihn los!, ruft sie und zerrt an deiner Schulter. Hannes fühlt das Rupfen, das Ziehen des Gummis auf der Haut, die spitzen Ellenbogen in seinem Bauch, will mehr, will jetzt alles, dasganze Spiel bis zum Ende. In seinem Kopf rast der Film, der Comic jetzt voll mit Leben. Er denkt die Körper ineinander, ein Knäuel aus Gliedern, Haar und Gewimmer. So will er sie über den Boden stauchen, über den Boden drehen, den einen in den andern hinein, erst Rippen in Rippen, dann Genick in Genick, ganz langsam, damit noch nichts bricht. Halten, streicheln, um Verzeihung bitten, und erst ganz am Ende, in der Umarmung, Cronk!, endlich erlöst.
Lass ihn los, ruft sie, er hat dir nichts getan! Sie wünscht sich, der Nachmittag wäre noch nicht zu Ende, die lustigen Spiele, Lachen, das aufregende Leben in Kostümen, die langen Blicke der Jungs; sie will um keinen Preis nach Hause. Wenn alles auffliegt, die Lügen auf den Tisch kommen, ist es aus, sie hätte alles verloren. Dion wäre sauer, Hannes würde sie verspotten und es überall herumerzählen. Sie wäre wieder das kranke, krumme Mädchen, das keiner will, und Daniela hätte gesiegt. Sie muss sich wehren, gegen ihr Schicksal, gegen diese Scheißkrankheit, die Scheißmutter mit ihren Scheißgebeten, den Scheißgott, der sie klein will und schwach. Mit aller Kraft reißt sie dich von Hannes weg. Oder Hannes von dir? Sie fühlt sich stark und entschlossen, machtvoll über ihr Leben, in diesem letzten Moment.
Welche Hand hat sie getroffen? Welcher Arm sie weggeschleudert? In der Erinnerung siehst du den Kampf von außen, ein Geschlinge der Körper, wo damals kein Blick möglich war. Im Inneren des Knäuels, schreibst du, hast du damals nur Fetzen gesehen, Haut und Hitze gespürt, Hannes auf der einen, Tanja auf der anderen Seite, mal über, mal unter dir, ihre Gesichter ganz nah. Rückblickend ist es dir möglich, diesen Moment anzuhalten, sogar wieder umzukehren.Tatsächlich aber hat Tanja schon in der nächsten Sekunde am Boden gelegen.
Heute glaubst du, das Geräusch genau beschreiben zu können, mit dem sie rücklings gegen das Waschbecken kippte und mit dem Hinterkopf auf die Fliesen schlug. Du hast Hannes keuchen und in deinen Ohren das Blut rasen gehört, sonst sei da nichts mehr gewesen als diese plötzliche Stille nach dem Schlag.
Hannes starrt auf den reglosen Körper am Boden. Halt!, denkt er. Zurück! Alles auf Anfang! Es soll doch nur ein Spiel sein, Jäger, Gejagte, Sieger, Verlierer, Batman, Robin, dann Heft zu und gut, am Ende hätte er sie doch entlassen, wären sie alle zum Essen nach Hause. Sicher, versucht er sich zu beruhigen, ist es nur eine kurze Ohnmacht, einfach weggekippt, zu besoffen, sie verträgt ja nichts, wacht gleich auf. Eine Ohrfeige, kalte Dusche, alles wieder normal. Und weiter geht’s.
Doch da rührt sich nichts. Er will hinspringen, sie hochheben, schütteln, kann sich nicht lösen. Das Kleid ist wie aus Beton, das verdammte Kleid, denkt er, das Kleid ist schuld. Er fetzt es sich in Gedanken vom Leib, doch es lässt die Bewegung, die echte, nicht zu.
Ich lasse das Haus los, bin fertig. Das war ein hartes Stück Arbeit. Der Kampf ist zu Ende, das Spiel gewonnen oder verloren, egal. Die Böen verebben so jäh, wie sie gekommen sind, was bleibt, ist die Spur der Verwüstung, die sich durch eine neue, noch nie gesehene Landschaft zieht. Im Dach klafft ein Loch, eingefasst vom Schneegebirge. Schollen brechen heraus und plumpsen auf den Bretterboden des Speichers. An der Westwand türmen sich die Verwehungenbis an die Fenstersimse, der Garten ist begraben. Von der Ecke steht das Regenrohr ab, verbogen wie ein ausgerenktes Gelenk. Die Ebene hat sich in Graten und Spornen über den Heidedamm geschoben, bildet Hügel und Mulden, nur
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