Moor
durchbrochen von den Bäumen, die weiß eingeschalt aus den Schneekegeln ragen. Alles, was zuvor noch kantig, rau oder aufgeworfen war, die Zäune, Mauern, Sodenhaufen und Schüttungen, habe ich abgeschliffen und eingehüllt, jedes bekannte Gesicht ausgelöscht und geweißt. Hier noch rutscht eine kleine Lawine von einem Ast, dort wagt sich ein Reh aus seinem Versteck und zieht, von Hunger getrieben, eine erste, zaghafte Spur.
Vereinzelte Flocken wirbeln durch die Luft, treiben eine Zeitlang ziellos umher, sinken irgendwo nieder. Dann mündet auch diese letzte Bewegung zurück in die Stille. Meine Kraft ist erschöpft, Wettervorhersage für morgen: heiter und Frost. Am übernächsten Tag wird die Kreiszeitung Bilanz ziehen: Der Sturm, einer der stärksten seit Jahren, habe zahlreiche Häuser abgedeckt, Strommasten umgeknickt und Bäume entwurzelt. Mehrere Dörfer waren von der Stromversorgung und den Zufahrtswegen abgeschnitten. Die Aufräumarbeiten halten an. Schadenssumme in Millionenhöhe. Bei einem Verkehrsunfall auf der Bundesstraße sind zwei Menschen ums Leben gekommen, in Fenndorf wurde ein dreizehnjähriges Mädchen durch herabstürzende Dachziegel schwer verletzt. Doch was geht mich das jetzt noch an?
Nicht verletzt habe sie ausgesehen, du schreibst: eher schlafend. Noch als du auf sie zugestürzt bist, hast du gehofft, es sei ein Scherz. Gleich würde sie wieder aufstehen, losprusten, sich das Kleid geradeziehen und ein neues Spiel vorschlagen, etwas Ruhigeres. Nirgends sei Blut zu sehen gewesen, keineWunde, ihr Gesicht friedlich und lieb. Doch dann hat sie leblos in deinen Händen gehangen, sei dir vielmehr durch die Hände gesackt, wie ein Bündel, etwas Knochenloses, du findest kein Bild dafür. Mehrmals hast du ihren Namen gerufen, und je lauter und verzweifelter deine Stimme geworden ist, desto beklemmender und endgültiger das Wissen um eure Schuld. Was hatte Hannes nur getan?
Wieso ich?, blafft er zurück. Du bist auf mich los! Er will schreien oder lachen, sehr witzig, soll ich auch mal auf tot machen, habt wohl gedacht, ihr könnt mich erschrecken, ihr kleinen Scheißer, haha. Stattdessen sieht er die Blässe in deinem Gesicht, Tränen in den Augen, diesen fassungslosen Blick, den man nicht spielen kann. Er sinkt in sich zusammen und rührt sich doch nicht, nur im Innern rutscht alles weg. Das Kleid hält ihn, das Scheißkleid, es pfercht ihn in deine Angst.
So, Auge in Auge, seien mehrere Sekunden vergangen, in denen keiner von euch beiden sich rührte, ja nicht einmal atmete, der eine den anderen nur angestarrt und gefürchtet hat. Du hast dir gewünscht, dass sich sein Gesicht wieder glätten, das Geheimnisvolle und Bewundernswerte darin zurückkehren, dein Leben mit dem Geheimnis und der Bewunderung für Hannes weitergehen möge wie bisher. Dann habe plötzlich das Telefon geklingelt und euch auseinandergerissen.
Hannes zuckt bei jedem Läuten zusammen, lauscht in den Flur, fleht, es möge gleich aufhören. Er zählt drei, vier, fünf. Der Abstand dazwischen scheint ihm immer länger zu werden. Beim sechsten Mal gibt er die Hoffnung auf, dass sichTanja doch noch regt. Kein Wort, sagt er, hörst du, kein Wort davon, oder ich mach dich kalt!
Heute, schreibst du, kannst du dich an das Klingeln kaum erinnern. Es sei ein seltenes Geräusch im Haus gewesen. Lediglich Ute Hassforther rief alle paar Monate an, zweimal im Jahr der Kohlehändler, um die Lieferung anzukündigen, und jeden Mittwochnachmittag Marga aus Hamburg. Diesen Anruf hast du stets herbeigesehnt, alle anderen ignoriert oder der Mutter überlassen, aus Angst, beim Abheben des Hörers deinen Namen sagen zu müssen, der nie gelang.
Hannes kniet sich neben Tanja nieder, stupst sie an, legt ihr die Hand auf die Stirn. Sie ist warm. Er traut sich nicht, das Augenlid zu öffnen, fürchtet das Weiß oder ein totes Blau. Er senkt das Ohr auf ihre Brust, horcht hinein, hört nur das Telefon läuten und die Leere im eigenen Kopf. In der Tür sieht er den Welpen, im Maul eine Ziegelscherbe.
Ronja legt den Kopf schief. Was ist denn hier los? Sie tapst heran, lässt die Beute neben Tanja auf den Boden fallen, blickt sie erwartungsvoll an. Fiept, leckt über ihre Hand, schiebt den Kopf zwischen die Pfoten und macht, falls Hunde so etwas können, ein enttäuschtes Gesicht.
Hannes streichelt dem Welpen über den Kopf, sagt: Brav. Legt Tanja die Scherbe in die Hand, schließt ihre Finger darum. Sucht den Puls, in der weichen Mulde unterhalb
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