Moor
ihrem bisherigen Leben bekommen hatte. Sie schloss die Augen. Das also würde ihre Arbeit im Modehaus sein, dachte sie noch, dann musste sie infolge des Medikaments, von dem betäubt und fast seines Schreckens beraubt dieser Gedanke schon war, tatsächlich eingeschlafen sein. Auf dem leeren, stillen Bild, durch das sie im Traum tauchte, dem Lebensbild, das sie irgendwann einmal würde malen müssen, holte sie die Lust doch noch ein, vielleicht weniger ein Gefühl des Verlangens, eher eine Art hohle Gier, verspätet und von allem, was sie bisher kannte und wusste, losgelöst wie ein durch ihren Körper irrendes Echo ohne Ursprung und Ziel.
Auf der Schwelle des Büros drehte sie sich noch einmal um. Ach, Frau Holst, sagte sie, und bitte grüßen Sie Ihren MannFriedrich von mir, Mira, er weiß dann schon Bescheid. Sie sah noch das verblüffte Gesicht der Beamtin, dann schlüpfte sie hinaus und schloss leise die Tür. In der Halle erhaschte sie in einem Spiegel ihren Schatten, blieb stehen und betrachtete sich. Der Rock spannte an den Hüften, warf unvorteilhafte Falten und verriet, dass sie in den letzten Monaten zugelegt hatte. Außerdem machte er ihr X-Beine, die hochgeschlossene Bluse zudem einen Gänsehals, sie zog den Bauch ein, streckte den Rücken durch, hätte sich das Kostüm am liebsten auf der Stelle vom Leib gerissen. Von dieser Pleite, dachte sie noch, erzählt sie ihrem Jungen lieber nichts. Dann ist sie, süchtig nach Farben und Licht, raus aus dem Amt und rein in die nächste Boutique.
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Doch nicht nur ihre kostspielige Kleidersucht schürt dein Misstrauen, das Wühlen und Scharren in den Läden der Stadt nach immer neuen Modellen und Schnitten, die dann, einmal getragen, in der Schrankecke zerknittern, wenn sie das Neue und Teure nicht plötzlich auftrennt, zerschneidet und zu etwas gänzlich anderem verprünt, das nach stundenlanger Flickerei oft halb fertig und untragbar in der Altkleidersammlung landet.
Aus ihrer Handtasche, die du gestern Nacht noch durchsucht hast, rutschte dir die Rechnung entgegen, hundertfünfzig Tacken hatte sie für den roten Fetzen hingelegt, der mehr Aussparungen als Stoff vorweist, du selbst aber wartest schon seit einem Jahr auf das neue Fahrrad. Auch das sechsbändige Naturlexikon, das du dir für deine Moorpflanzen- und Libellenforschungen von ihr wünschst, ist bisher nur ein leeres Versprechen geblieben. Doch statt zu protestieren, packst du dich in Nebel und Stille. Schon immer ist der große, hintereinem schier undurchdringlichen Schilfgürtel verborgene Kolk im Herzen der Ebene, woher die meisten deiner Funde stammen, Ziel deiner Fluchten gewesen, Versteck vor den mündlichen Schulprüfungen und Rückzugsort, wenn du die Launen der Mutter nicht mehr ertrugst.
Unter deinen Füßen federt der Schwingrasen, verleiht dir eine fast traumwandlerische Leichtigkeit, und auch die Entfernung zum Dorf ist dir bei deinen Exkursionen heimwärts stets weiter erschienen, denn der schwammartige, vom Wasser geblähte Grund, den du springend querst, trügt den Wanderer in seinem Gefühl, über die aufgeworfenen Bulte mehr zu schweben als mühsam zu stolpern, bis nach vielen Kilometern plötzlich, auf einem trittfesten Stück Weg, die Erschöpfung den Schritt ausbremst, meist dann, wenn ringsum kein Kirchturm oder Futtersilo eines Gehöfts mehr ragt, nur noch die löcherigen Reihen des Gagelstrauchs, struppige Farnfelder und die wie zernagte Buhnen aus dem von Wollgrasinseln durchsetzten Binsenmeer starrenden Zeilen der abgestorbenen Birken vor den immergleichen, sommers dumpfgrün, ab November in den Farben des Hochnebels schimmernden Forsten, die in der Ferne die Ebene säumen.
Dort dringt dir der Regen bis auf die Haut. Vor deinen Augen zeichnet der Nebel Fratzen in die Heidegehölze, die bereits kahlen, oft zersplitterten Zweige wie Glieder und Flechsen. Du drehst dich noch einmal um, Richtung Dorf, doch da sind nur noch Gras, Wasser, totes Holz, ab und zu eine verkrüppelte, im Zickzack gewachsene Kiefer und dahinter wieder der Wellenteppich aus Pfeifengras und Schnabelried, in dem adrig die dunklen Rinnen schimmern; wo du hinschaust, überall bin nur noch ich.
Lauf weiter, zischt es aus der gluckernden Spalte, zu Hausegibt’s für dich nichts zu holen, drüben grinst das Birkenskelett. Selbst wenn sie noch da ist, hörst du es unter den Sohlen flüstern, sie hätte für deine Not jetzt kein Ohr, in der Wanne, von wo aus sie dich mit Schaumkränzen an den Fingern
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