Moor
Korrekturzeichen und Einfügungen nur schwer entziffern und die einzelnen Abschnitte kaum in Zusammenhang bringen konnte, ihr das Buchstabengewirr auf den Seiten vielmehr wie eine komplizierte und abstrakte Zeichnung aus Chiffren und Pfeilen erschien, schlug ihr daraus eine Wortgewalt entgegen, die zugleich ein Abgrund war, etwas Bodenloses, fast Besessenes, das aus den Blättern sprach und eine tiefe Beklommenheit in ihr hervorrief, ja sogar etwas wie Kränkung, als sie sich eingestehen musste, dass du ihre Hilfe anscheinend gerade dann verschmähst, wenn du sie am nötigsten hast, wie in diesem Kampf, den du ganz alleine auf dem Papier ausgefochten hattest.
Auf ihrer Armbanduhr war es kurz vor halb neun, zu spät, dachte sie, nun ist er schon dran. Noch einmal fuhr sie mit dem Finger die Zeilen entlang, die unter ihrem Blick wegrutschten und sich an anderer Stelle wieder zusammenstauchten, in einem ungleich größeren Durcheinander, als sie selbst es je in einem Text angerichtet hatte. Nach einer halben Seite kapitulierte sie. Eine Weile stand sie unschlüssig herum und betrachtete die Libellenuhr, die kurz nach halb acht anzeigte, so dass ihr die Minuten, in denen sie überlegte, was nun zu tun sei, rückblickend wie ein Zeitloch erschienen. Wie lange hatte sie dort verharrt und nachgedacht? Erstjetzt begriff sie, dass die Zeiger auf der Libelle stehengeblieben waren. Noch könnte sie im Sekretariat anrufen und Gorbach, den Deutschlehrer, ans Telefon rufen lassen. Oder doch besser gleich hinfahren und den Jungen unter einem Vorwand abholen, ein vergessener Arzttermin, ein Todesfall in der Familie, in welcher Familie aber, wischte sie den Gedanken weg, und nichts schlimmer als eine besorgte Mutter, die ihr Kind aus der Klasse zerrt.
Sie hätte ihn damit nur dem Gespött der Mitschüler ausgesetzt, einer neuen Attacke von David, dem missratenen Spross der Gertrude Voss, die auch eine Zugezogene, eine Bessere aus der Stadt ist, mit Hamburger Autokennzeichen und verheiratet in zweiter Ehe mit dem Zahnarzt, dem sie ein kleines Monster herangezüchtet hat, das noch verkommener ist als die tumben Dorfkinder, die prügeln, weil ihre Eltern prügeln, und später saufen werden, weil auch der Vater schon seinen Frust, wie man sagt, im Korn ertränkt hat. Davids Schikanen aber, das war ihr schon aufgefallen, als Dion noch in die Grundschule ging, haben Taktik, eine Brutalität aus gutem Hause.
Es ist noch nicht lange her, als du deine Mutter fragtest, ob es stimme, dass du bist, was David behauptet hatte: ein Hurensohn. Immerhin hatte sie daraufhin eine Unterredung beim Rektor bewirkt, wo Gertrude Voss energisch die Verteidigung des Sohnes übernahm, ihres David, der es dank ihrer liberalen Erziehung schon früh gelernt habe, seine Mitmenschen genau einzuschätzen. Von der einen Seite flogen Begriffe wie Gluckenmutter und Mutterkomplex , von der anderen die Worte Mutterpflicht und Mutterversagen wie Geschosse durch den Raum. Du hast stumm in der Ecke gestanden, David grinste hämisch herüber. Schließlich war der Schulleiteraufgesprungen und hatte den zankenden Pulk aus dem Direktorenzimmer geschoben, eine Schlappe für David Voss, der sich vor aller Augen bei dir entschuldigen musste. Doch kaum aus der Tür heraus, verpasste er dir eine Kopfnuss, so dass die brünette Mutter den blonden und die blonde den braunhaarigen Übeltäter am Arm packte und über den Korridor davonzerrte, wo es von hüben Schleimerin! und von drüben Schlampe! , vom einen Ende Mamasöhnchen! , vom anderen hBastard! schallte, was nicht gelogen war, denn im ganzen Dorf war bekannt, dass Gertrude Voss ihren David in die Ehe mit dem Zahnarzt nicht geboren, sondern aus der Stadt mitgebracht hatte, und es also am Ende dieses Streits offenblieb, wer nun eigentlich die Verkommenere der beiden Mütter war, du kennst das Wort Hure nicht nur vom Blättern und Suchen nach H-Hilfen im Duden, wo es unter den guten und heilsamen Wörtern steht, zwischen Hürde und hurra .
Am nächsten Tag trumpfte David Voss vor der Klasse mit dem Witz über deine Mutter auf, die im Schlussverkauf am Wühltisch steht und ruft: Nur ich bin billiger! Wieder spürst du in deiner Brust den Schrei festsitzen, der sich in diesem Moment nicht gegen deinen Erzfeind Voss und die prustenden Mitschüler, sondern gegen sie, Marga, richtete, eine erstickende Wut, die dich jetzt vor sich hertreibt, immer tiefer in den Muttersumpf und Mutterdreck, in das Muttermoor, das dich seit Jahr und
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