Moor
das alte Spiel nichts mehr ausgerichtet. Ihre Zickigkeit als Strafe für die kleine Wunde erschien dir ungerecht und gehässig, doch worauf warst du eigentlich wütend? Als sie aus dem Wasser stieg und nach dem Handtuch verlangte, hast du deinen Ärger hinuntergeschluckt, tief eingeatmet und: hEs htut hmir hleid, hervorgepresst. Die halbe Nacht hattest du gegrübelt, was eigentlich dein Fehler gewesen war, und je weiter die Zeiger auf der Libellenuhr voranrückten, desto drückender legte sich der Gedanke auf dich, dass nicht deine Ungeschicklichkeit beim Rasieren sie so vergrätzt hatte, nein, Dion, schallt es nunvon allen Seiten aus dem Gras, der Grund für ihr Unglück bist du!
Sie wickelte sich ins Badetuch und blickte dich verdrossen an. Was?, blaffte sie und boxte dich gegen die Schulter. Was das sei, das dir leidtue? Der Regen tropfte dir kalt in den offen stehenden Mund. Das etwa?, und sie deutete auf den Teich, dann in einer Ruderbewegung zum Dorf, zum Haus, ins Moor hinaus, zuletzt auf dich. Auch mir tut das leid! Sie fasste dich am Kinn und drückte dir den Kiefer auseinander, als wollte sie irgendeine Reaktion aus dir herausquetschen, doch es kam kein Wort.
Ein Zweig peitscht dir ins Gesicht, so unvermittelt und brutal, wie sie dich damals packte. Du schlägst zurück, trittst sie in Gedanken weg, das Holz zerbricht, kein Blatt hängt mehr an dem toten Strauch, unter den du dich wegduckst. Dein Fuß bleibt im Grasfilz hängen, du fällst hin und beißt ins Moos. Hättest dir ihre Umarmung gewünscht, wenigstens ein Lächeln, den schmierigen Salben-Kuss, irgendetwas, das dir versichert: Alles wieder gut.
Die Erde schmeckt bitter, nach Rost, du spuckst aus, raffst dich hoch und rennst weiter in deinem einsamen Trotz, denn ihre Liebe, Dion, oder nach was auch immer du hier suchst, ist nichts als Schall und Rauch, ein Hirngespinst und Nebelphantom, das dich hätschelt, Dornengesträuch, das dich tätschelt, und der eisige Wind, der dir Zärtlichkeiten ins Ohr haucht, ein Schauergedicht, in dem das Kind durch die Moorhölzer bricht, bis du nur noch den Himmel siehst, der dich verschluckt, Erde, die in deine Spur das Wasser drückt, und hier und da eine nackte Birke, wo du mal links, mal rechts abbiegst, was keinen Unterschied mehr macht und den Horizont nur um eine weitere Linie nach hintenverschiebt, denn hast du einmal den Fußpfad verlassen, der über eingesackte Dämme und in den Schlamm geworfene Bretter durch die Mäander der Schlenken von Rahse nach Fenndorf führt und bei Regen selbst für den kundigsten Torfstecher zum Labyrinth wird, sind all meine Richtungen gleich.
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An der Ecke zur Seitenstraße, in der die Galerie liegt, bleibt sie vor einem Praxisschild stehen: Sebastian Klingohr, Sprachheilkunde, Sprechzeiten nach Vereinbarung, darunter die Telefonnummer. Ein Name wie die Faust aufs Auge, denkt sie und durchwühlt ihre Handtasche nach einem Stift, findet aber nur leere Zigarettenschachteln, Haarspangen, die Packung Lexotax, ein Kondom. Sei froh, dass ich mich um dich Stotterer kümmere, scheint die Frau, die gerade aus der Tür tritt, ihrem Kind sagen zu wollen, einem blassen, vielleicht zehnjährigen Jungen mit verkniffenem Mund und Augen, die sie, Marga, furchtsam mustern.
Die Mutter, kaum älter als sie, drückt sich an ihr vorbei auf die Straße. Marga spürt den prüfenden Blick auf ihrem Körper, das Kleid, das ihr plötzlich doch zu kurz erscheint, oder ist es das Bild in ihrer Hand, das sie verrät? Schnell klemmt sie es sich unter den Arm und eilt weiter, dreht sich nach ein paar Metern doch wieder um. Ob sie sich die Praxis nicht wenigstens einmal anschauen sollte? Drüben zieht die Frau ihren Jungen über die Straße, zwischen den parkenden Autos blickt er plötzlich zurück, wie um sie noch einmal vor dem Sprachheiler zu warnen. Sie kann ja doch alles nur falsch machen, denkt sie, wie sie dich auch anpackt, es ist immer verkehrt.
Tatsächlich drängten Erinnerungen aus der eigenen Schulzeit herauf, als sie heute Morgen beim Bettenmachen die Abschriften deines Referats auf dem Schreibtisch fand. Was sie da in Händen hielt, war nicht die Vorübung zu einem Schulaufsatz, sondern ein Zeugnis größter Bedrängnis. Sie brauchte die engbekritzelten Seiten nur zu überfliegen, um das Bild der Angst, das sich in den Zeilen verbarg, in seiner ganzen Verworrenheit zu erkennen. Hastig folgte sie mit den Augen den Verrenkungen der Sätze. Obwohl sie die Worte im Chaos der
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