Moor
Tag in seinen Buchstabenmorast hinabzieht, denn allein die Nominalverbindungen mit dem Wort Mutter – auch das hast du beim Suchen im Duden entdeckt – füllen dort fast drei Spalten, von Mutterband über Mutterherz bis Mutterwitz , und nicht nur David Voss spottet, das ganze Dorf stichelt mit scheelen Blicken und Geflüster, so dass Marga statt eines warm pulsierenden Mutterherzens einen Klumpen aus verhornten Kränkungen in ihrer Brust trägt, an dem du dir die Zähne ausbeißt, wenn auch du ein Stück von dem Liebeskuchen abhaben willst, an dem David Voss sich satt frisst, auch jedes andere Kind im Dorf, das von seiner Mutter zur Musikschule und zum Turnverein, am Wochenende zu den Großeltern und jeden Sommer ans Meer oder zumindest ins Zeltlager gefahren wird, und wer trotzdem noch kränkelt, der muss zu Ärzten und in Kuren, wie Tanja, deren Mutter, Frau Deichsen, keine Mühen und Kosten scheut, das Glasinnere ihrer Tochter in Spezialkrankenhäusern härten und stärken zu lassen, obwohl, wie alle im Dorf wissen, die Krankheit nicht heilbar, das allmähliche Zersplittern ihrer Knochen also unaufhaltsam ist und ihr vielleicht schon in ein paar Jahren der Rollstuhl droht, weshalb die Pfarrersfrau das Kind selbstverständlich jeden Mittwoch hundert Kilometer nach Hamburg zur Therapie bringt, dich aber, Dion, hat deine Mutter noch nie mit in die Stadt genommen, wo es Stotterheiler, sogenannte Logopäden, in Hülle und Fülle gibt.
Jedes Kind, Dion, gurgelt es im trüben Wasser, hat zeitlebens die falsche Mutter. Deine Mutter bringst du nicht hinter dich, bis zu ihrem Tod klebt ihre Liebe an dir und danach für den Rest deines Lebens der alte Groll, denn immer wird das, was sie für dich getan hat, zu viel oder zu wenig, Unterlassung oder Übergriff gewesen sein, die Rabenmutter schert sich um dich einen Dreck, die Glucke schleift dich zum Stotterarzt, die eine wie die andere hat deine wahren Nöte und Sorgen bis zuletzt nicht erkannt, das Brodeln unter der Oberfläche deines Schweigens, das du selbst hättest brechen müssen, oder woher sonst, wenn du nicht Tacheles redest, soll sie wissen, dass es sich bei der Deutscharbeit nicht, wie sie bis zum heutigen Morgen noch glaubte, umeinen Übungsaufsatz handelt, bei dem sie dir ohnehin keine Stütze gewesen wäre, als die Schreibgestörte, die einst ihren eigenen Namen und mit einem einzigen Buchstabendreher ihr ganzes Leben versaut hat.
Also hast du die Referatabschriften absichtlich auf dem Schreibtisch liegenlassen. Sehen sollte sie, dass du nachmittagelang den Duden gewälzt hast, um möglichst viele H-Wörter wie Brücken und Seile in deinen von scharfkantigen Konsonanten zerklüfteten Text einzuhaken. Hatte sie wirklich all die Tage zuvor geglaubt, es handele sich um einen Aufsatz? Den hättest du, wenn er nur zu schreiben und nicht zu sprechen gewesen wäre, in einer halben Stunde hingesetzt, sozusagen aus dem Effeff – und du hörst den Wind drüben in der Föhre fisteln und darin den scharfen Pfiff des Buchstabens F, der nicht nur dem Aussehen nach einer Kralle gleicht und im Wörterbuch ganze achtundsiebzig Seiten für sich beansprucht, von Fabel bis Fuzzi, während das für dich lebensnotwendige H es zum Glück auf hundertdrei Seiten bringt, die Mundsperre M – Marga, Moor, Mutter – dich hingegen ganze fünfundsiebzig Seiten knebelt, was im Katalog der alphabetischen Folterinstrumente noch vom klauenartigen K übertroffen wird, K wie Katthusen, eine hunderteinundzwanzig Seiten und eine ganze Kindheit andauernde Katastrophe, nein, Havarie –
Doch wie du den Duden auch gedreht und gewendet hast, Der Lebenszyklus der Libellen , den es vorzutragen galt, bestand aus sechsundzwanzig Buchstaben, die dich alle fast ersticken, und selbst in einer nur hingehauchten, einer nur aus H-Wörtern und H-Sätzen wie aus Luftmaschen gehäkelten Welt würde niemand dich hören, so oder so führt deineSchreiberei stets hinaus in die Stummheit der Heiden und Haine und hinein in das Wasser, das so trügerisch aussieht wie sein Name klingt, denn der Buchstabe W lockt wohlig und weich, ein dunkles Wispern und Vibrieren aus tiefer Erde, das einlädt, sich darin zu wälzen zwischen hochgewachsenen Wiesen, und auch die Wolken, die drüber herziehen, scheinen dich ganz ohne Stachel und Dorn bewachen und bewahren zu wollen, alles Schwachsinn, alles Wortwischerei und Sprachwahn, denn tatsächlich ist das W mit seinen fünf Spitzen der im Alphabet am schwersten bewaffnete
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