Moor
ebenfalls hassen kannst. War nicht das letztendlich Ziel all ihrer Kämpfe gewesen? Wenn sie dich auch seit über einem Jahrzehnt täuschte und belog, auf ihrem Bild sprach sie die Wahrheit aus, unverstellter und brutaler, als sie es je hätte in Worte fassen können.
Nicht ihr Talent und handwerkliches Geschick, nein ihren eigenen Überdruss hatte die Jury der Kunststiftung lobend erwähnt, als sie dieses Bild auswählte, ein Zynismus, der sie nun mit bitterer Genugtuung erfüllte. Dabei war das Ereignis, das sie einst zu dieser Idee gebracht hatte, ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen: Wenige Monate nachdem sie nach Fenndorf gezogen war, schwanger im siebten Monat, hatten die Torfarbeiter im Grubengelände mit dem Bagger einen Körper zutage gefördert. Sie selbst hatte die Leiche nie zu Gesicht bekommen und dem Vorfall zunächst wenig Beachtung geschenkt, war von der Aufregung einer sich an Mord- und Schauergeschichten ergötzenden Dorfgemeinschaft verunsichert und angewidert gewesen. Dions Vater, erinnert sie sich nun wieder, hatte tagelang nicht aufhören können, davon zu reden. Der Tote habe ihn aus Augen angeschaut, als wäre er noch lebendig, hatte er am Tag des Funds beim Abendessen gestammelt, in seiner Hand zitterte dieGabel. Nachts war er aufgewacht, hatte sich von hinten an sie gepresst und gestöhnt, er habe den Leichnam vor Schmerz wimmern hören; beim Aushub hatte die Baggerschaufel eine Hand abgetrennt, die später von den Archäologen aus dem abgeriegelten Stich geborgen wurde, vollständig erhalten, wie es hieß, mit einem nachweisbaren Knochenbruch am zweiten Glied des Zeigefingers, was Spekulationen über einen gewaltsamen Tod des Menschen schürte, der einst in den tiefen Schwarztorfschichten sein feuchtes, aber steriles, von jeglicher Sauerstoffzufuhr abgeschlossenes Grab gefunden hatte.
Die Lokalzeitung berichtete ausführlich über die Sensation und druckte ein in dunklen Tönen gehaltenes Foto der Moorleiche ab, deren Mund – selbst der Lippenschwung, erinnert sie sich, war noch deutlich zu erkennen gewesen – halb offen stand, tatsächlich wie schreiend oder im Moment des Todes im Schrei erstarrt. Aus dem Dorftratsch und weiteren Zeitungsberichten setzte sich in ihrem Kopf ein in seiner plötzlichen Gegenwärtigkeit auf eine gleichermaßen verstörende wie erregende Weise lebendiger Leib zusammen, das Bild eines ausgemergelten, mit der von den Huminsäuren gegerbten Haut wie verkohlt wirkenden Kindes, fast schon jungen Mannes, vermutlich mehrere tausend Jahre alt, wie es in einem der Artikel hieß, die auch in den nächsten Tagen und Wochen die verdorrten Sehnen und Muskelfasern auf den knochigen Gliedern zur Schau stellten, das ledrige Gesicht mit der darin versteinerten Todesangst und sogar die verschrumpelten Geschlechtsteile des Jungen, den die Spezialisten zum Zeitpunkt seines Ablebens auf zwölf- bis vierzehnjährig schätzten.
Gerichtsmediziner, die den mumifizierten Körper untersuchten, wollten noch weitere Spuren von Gewaltanwendung gefunden haben, Würge- und Schürfmale am Hals und ein ausgerenktes Schultergelenk; außerdem habe man im Umfeld der Grube Fasern eines Stricks geborgen, den, mutmaßten die Forscher, der Tote um das Genick getragen haben könnte, bevor dieser vom Bagger abgerissen worden sei. Sogar sein letztes Essen, sozusagen die Henkersmahlzeit, ließ sich durch die Untersuchungen rekonstruieren: Aus dem Magen des ertränkten oder anderweitig hingerichteten Jungen schnitt man drei Apfelkerne, woraus die Wissenschaftler auf einen Todeszeitpunkt im Herbst oder Winter schlossen. All das führte dazu, dass im Dorfladen, wo Ilse Bloch das unangefochtene Erstrecht an den Neuigkeiten des Tages besaß, bald das Gerücht umging, unter den Urahnen der heutigen Fenndorfer habe in grauen Vorzeiten ein kaltblütiger Kindsmörder gehaust.
Das Bild des versunkenen Jungen begann sie zu verfolgen. Sie sah sein Gesicht mit dem zahnlos aufgerissenen Mund aus dem trüben Abwaschwasser heraufstarren, im düsteren Bürozimmer, wo sie über den Rechnungen saß, knitterte in ihren Händen statt Papier plötzlich die brüchige Lederhaut, und nachts, in einem wirren Traum, warf ihr der Torfstecher, den sie vor kurzem geheiratet hatte, mit der Schippe einen schwarzen Säugling in den Schoß. Sie schlug die Augen auf, lauschte in ihren Leib und legte die Hände auf den Bauch, der sich bereits zu einer steilen Kuppe aufwölbte, darin eine Stille und Reglosigkeit wie in einem
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