Moor
dass die Leiche des Jungen aus dem Moor einen tausendjährigen Tod in sich trägt, während sein Körper gleichzeitig noch immer in der engen Haut einer Kindheit steckt, aus der es nun kein Entrinnen mehr gibt, unerlöst von allen noch namenlosen Begierden und ohne Antwort auf die Fragen, die seinen Mund in dem Moment, als er imMorast versunken war, zu einem Schrei geformt hatte, der nicht mehr verklingt.
In ihrer Werkecke schaffte sie zwischen den Gerätschaften Platz, tackerte eine der auf Vorrat grundierten Nesselbahnen an die Wand, mischte in den Plastiknäpfen ein schmales Spektrum roter, brauner und schwarzer Farben an und richtete die Lampe auf das matt schimmernde Weiß. Lange rührte sie sich nicht, saß nur da und blickte hinaus in die Nacht, wo schon ein heller Streif am Himmel glomm. Dann setzte sie den Pinsel an. Bis drüben am Teich die Sonne über den Erlenhain trat, trug sie schlammig dunkle Schichten auf, deren gespachtelte Krusten keiner der Kunst- und Sachverständigen der Jury, die ihr Bild ausgewählt hatten, durchdrungen zu haben schien, malte im aufscheinenden Morgenlicht mit gehetzter Hand, zusammengekniffenen Augen und halbgeöffnetem, wie im Schrei erstarrtem Mund den Abgang ihres Kindes ins Moor.
Du sinkst augenblicklich ein. Spürst unter dir die träge Last der meterdicken Torfschwämme, den schweren, fetten Leib, der dich umarmt. Ich schließe dich ein, in Wasser, in Erde oder ein Gemenge aus beidem: feuchte Krume, zäher Wurzelfilz, verzweigte Adern über halbverrotteten Ästen wie Knochen, darunter das Herz der Tiefe, breiig, kalt pulsierend, noch vor zweihundert Jahren fürchteten mich die Fenndorfer als schwarzes, schleimiges Tier, das unter den Häusern lebt und ihre Kinder verschlingt. Ein Jahrtausend zuvor legten ihre Ahnen Tonschalen mit Speisen in die feuchten Grabstätten der Verstorbenen, um mich in meinem Totenhunger zu besänftigen. Andere sahen in mir eine fleischfressende Pflanze, der man im Torfstich die Triebe abhacken musste, die nach ihrer Habe griffen, nach ihrenKörpern und Seelen. Heute pflügt das Schaufelrad der Torfstechmaschine, die damals auch dein Vater lenkte, bis zu einem Meter tief in meine Eingeweide, die sie zerlegen, dörren und in Soden aufschichten, düstere Pyramiden wie kultische Grabstätten, die einen Sommer lang in der Ebene ragen, bald geplündert und verhökert, einst an Bauern als Brennstoff für ihre klammen Häuser, jetzt an die Schrebergärtner für ihre Rosenstöcke.
Gedränt, zerstochen und abgeplaggt, liege ich als schwarzer Kadaver in der Landschaft, überzogen von eiternden Kratern und Heidegrind, mit einem Bohlenweg als künstlicher Wirbelsäule über meinem mit Schrittmachern am Leben gehaltenen Herzen, geflutet mit Wasser, aus dem sie mit Dämmen und Wallhecken die Jauche filtern, die von den Äckern herübersickert, als hinge ich an der Dialyse. Sie schließen die Ablaufgräben, entbirken die Torfmoosflächen und setzen den Moorfrosch zurück in die Schlenken, der bald wieder verreckt, im Kot der Enten, denen die Dorfteiche zu klein geworden sind. Sie jagen mir die Heidschnucken übers Gesicht, die meine Wunden lecken sollen, abfressen, was dort nicht wachsen darf, Geschwüre aus den angrenzenden Wäldern und Wiesen, Buchensprosse, Gänseblümchen, die allseits wuchernde Quecke, sogar ein krummes Apfelbäumchen musste man fällen, gesät vom Wind, den Picknickgelagen der Wanderer oder von der Losung der Rehe, die dort, wo einst der Sonnentau giftig leuchtete, fette Kleefelder rupfen. Biologen, Ökologen, Tier- und Pflanzenkundler scharen sich um mein Totenbett wie ein Heer von Ärzten, abgesandt zu meiner Wiederbelebung mit kompliziertem Gerät, das den Säuregehalt meiner Körpersäfte misst, den pH-Wert meiner Haut und die Temperatur im Innern, denn trotz ihrer Bandagen, all der Schläuche, Pumpen und Zusätze ausihren Labors winde ich mich in hohem Fieber, blute ich aus, magere ab und verröchele.
Doch mein Leiden ist so alt wie ihre Angst vor meiner Gefräßigkeit. Zum Durchschiffen zu trocken, für den Fußmarsch zu nass, glaubten vor einem Vierteljahrtausend selbst noch die Gelehrten an mein zwittriges Wesen, das weder Wasser sei noch Land; nicht lebendig noch gänzlich tot, verödet und doch in stetigem Wandel, fruchtlos und zugleich voller wertvoller Zeugnisse aus vergangenen Zeiten, so vermaßen und durchzeichneten sie meinen Körper mit den darin eingewässerten Fossilien und schrieben mich als Auswurf des Meeres in
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