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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Wagen um. Sie zieht schnaubend den Schlüssel aus dem Anlasser. Kennst du dich aus? Er zuckt die Achseln. Sein Vater sei Kfz-Meister gewesen, als Kind habe er Autos gehasst, fahre deshalb jetzt Motorrad. Ich habe zwischen den alten Karren spielen müssen, plappert er, weil ums elterliche Haus kein Garten, nicht einmal ein Hof gewesen sei, und sie verbeißt sich ihren Ärger, seine Kindheitsgeschichte ist wahrlich nicht das, was sie jetzt von ihm will. Ich hätte gerne einen Vater gehabt, der mir zeigt, wie man Autos repariert, blockt sie ihn ab und schlägt fluchend gegen das Lenkrad, doch Röcker räkelt sich nun tiefer in den Sitz und zurück in seine Vergangenheit, scheint sie mit seiner Verletztheit kapern zu wollen. Noch heute stoße ihm der Geruch von Benzin und durchgebrannten Kabeln übel auf, vor allem aber würge ihn die Erinnerung an seinen Vater, der ihn, den Zehnjährigen, zwang, mit der Hand einen Eimer Altöl, den er beim Spielen umgekippt hatte, also das Altöl mit der Hand in den Eimer zurückzuschaufeln, mit diesen Händen, und er senkt bedeutungsvoll die Stimme und präsentiert seine feingliedrigen Finger, die ihr schon damals, bei der Preisverleihung, aufgefallen waren als die Hände eines Menschen, der nicht zupackt, sondern formt. Sie rutscht gegen die Türverkleidung, schließt die Augen. Ich habe geheult, hört sie ihn dicht an ihrem Ohr flüstern, aber der Vater habe ihm, dem Jungen, wieder einmal mit dem Heim gedroht, wenn auch nur ein einziger Spritzer Öl auf dem Boden zurückbleibe. Weißt du, was ein Heim ist?, unterbricht sie ihn müde, ihre Mutter habe sie, Marga, als Baby vor der Tür eines Kinderheims abgelegt, mit einem Fünfmarkstück in der Faust. Sie öffnet die Augen, sieht in Röckers Gesicht einen Ausdruck, als hätte sie soeben chinesisch gesprochen. Internat, verbessert er, ich sollte ins Internat. Das Altöl, das er, Röcker, unter den Augen des Vaters vom Boden kratzen musste, hat sich nicht wegkratzen lassen, es sei flüssiger gewesen als Sand, doch zäher als Wasser und bildete zwischen meinen Fingern, seufzt er, Blasen und Löcher, und er schaut sie dabei durchdringend an, tatsächlich wie der kleine ausgeschimpfte Junge, da habe er, fährt er nach einer die Pointe hinauszögernden Atempause fort, in den Ölpfützen auf dem Werkstattboden plötzlich ein Bild gesehen, das Gesicht einer Frau, und einen Monat später sei er im Heim gewesen. Internat, verbessert sie, ja, einem musischen, nickt er, das war meine Rettung, und wohl der Grund, denkt sie, warum er nun dieses Frauengesicht aus dem Motoröl der väterlichen Autowerkstatt in allen Farben und Tönen auf Leinwände schmiert. Und weiter?, fragt sie.
    Ihm jetzt doch das Hemd aufreißen, hier, im Auto, unter den Augen der vorüberziehenden Passanten? Das Knopfloch wird sich flicken lassen, denkt sie, seine Freundin wird es nähen, oder die Mutter, wenn er noch eine hat, denn auch ihr, Marga, haben sie den Rücken wieder zugenäht, die Mütter und Erzieherinnen ihrer Kindheit beziehungsweise Doktor Mellrich, der Diakoniearzt, der bei den Mädchen für alles zuständig war, was schnell heilen musste, für Masern und Mumps der Kleinen, später die Mandelentzündungen, dann die Beschwerden mit der Menstruation; sie hat, erinnert sie sich, schon mit elf geblutet, mitten im Mathematikunterricht, was die Lehrerin sehr beschämte. Dann wieder geblutet mit sechzehn, irgendwann nachts im Hinterzimmer des Club Fatal, doch da hat Gila ihr geholfen. Ein halbes Jahr später noch einmal, unter den Augen und Händen von Nachtschwester Marita und mit dem heftigen Wunsch, Gila würde ihr beistehen, doch die war weg und der Kleiderbügel steckte ihr zwischen den Schulterblättern, nicht der Bügel, aber der dazugehörige Haken, auf den es ankam, nicht umsonst waren die Kleiderbügel im Diakonissenheim ausnahmslos aus Holz. Draht hätte sich auf dem Rücken verbogen, Plastik wäre vielleicht gebrochen, Draht- und Plastikbügel hätten, wenn sie aneinanderstießen, nur leise geklirrt, nicht aber weitschallend geklappert wie die Holzkleiderbügel an den Garderobenständern, die überall in den Korridoren des Heims aufgestellt waren, obwohl selten etwas daran hing, ein verlorener Schal manchmal, eine vergessene Mütze oder der Mantel einer Tante, die zu Besuch gekommen war. Meist verharrten die Bügelhölzer nackt und reglos an ihren Haken, begannen aber im Luftzug einer geöffneten Tür oder unter den Erschütterungen der Fußtritte auf den

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