Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
Vom Netzwerk:
alten Dielenböden gegeneinanderzuschlagen, unüberhörbar selbst in den abgelegenen Zimmern des evangelischen Kinderheims, das sich nach außen, zur Stadt hin, offen und ohne Gitterzaun präsentierte, im Innern aber von einem fein austariertenAlarmsystem überwacht wurde, das zu gegebenem Anlass die Diakonissen in den Abwehrkampf rief, die Hornissen , wie die Mädchen die Heimschwestern nannten, die nachts – und bei dieser Phantasie hatte sie sich mit Gila vor Lachen gekrümmt – heimlich in den Speisesaal ausschwirrten und im Akkord die Kleiderbügel fertigten, nach dem Vorbild der echten Stechinsekten, die sich ihre Nester als labyrinthartige Paläste bauen, indem sie Holz zu einer Art Pappmaché zerkauen, und sie kicherten noch immer über die bizarre Nonnenfarce, während sie mit den Stöckelschuhen in der Hand an der Tür zum Speisesaal vorüberschlichen, hinter der, wie man sich im Heim erzählte, die Diakonissen an den Tischen, wo mittags die Mädchen den Kartoffelbrei löffelten, das Feuerholz mit göttlicher Spucke zu den Kleiderbügeln vermümmelten, in die Doktor Mellrich, im letzten Fabrikationsschritt, die Drahthaken steckte, um die fertigen Wächter anschließend zum Aushärten an den Garderobenstangen aufzuhängen. In jener Samstagnacht aber hatte dort ungewöhnliche Stille geherrscht, denn sie, Marga und Ingrid, in ihrer Alltagskleidung noch die unauffälligen Heimmädchen, hatten vorgesorgt und schon am Abend hier einen Schal, dort eine Mütze sorgsam platziert, was das Geklapper dämmen sollte, so dass es nicht bis zum Dienstzimmer dringen würde, wo Nachtschwester Marita über ihrem Rätselheft oder den Personalakten saß.
    Doch wie es solche Heimgeschichten verlangen, hatten sie es versäumt, die Mangelküche zu präparieren. An den Waschtagen trockneten dort, auf unzählige Bügel gezogen, die diakonischen Ordensblusen, samstags aber, wenn auch im Heim die Hausarbeit ruhte, baumelte nur manchmal eine einzelne vergessene oder von der Näherin noch auszubessernde Tracht im Luftzug vom hoch in die Wand eingelassenen Kellerfenster. Sie erinnert sich noch genau an das Tacken wie von einer sich immer schneller drehenden Uhr, ein Geräusch, das sie auch heute noch im Innern durchzuckt, wenn sie sich, wie jetzt, auf der Schwelle glaubt, zwischen den Gedankenfetzen einer Idee und der möglichen Form ihrer Verwirklichung, auf dem Weg von hier nach dort, heraus aus der verworrenen und kaum zu durchblickenden Wirklichkeit in die wohlbedachte, wenn auch nicht minder chaotische Anordnung eines Bildes, oder umgekehrt, von der einen Verwirrung in die andere. Es ist der Moment, in dem sie etwas Dumpfes und Starres verlässt, sich aus einem schier uferlosen Zustand von Gleichgültigkeit heraus zu einem Körper entfaltet, der scharf abgegrenzt und von fiebrigen Nerven überzogen ist, und dieser Wunsch nach Reizen und Berührung, der Hunger nach der Samstagnacht draußen und ihren Lichtern und Leibern, war es, so glaubt sie heute, warum sie in ihrer Eile und Euphorie vergessen hatten, die Bügel an den straffgespannten Leinen der Mangelküche, wie sie es sonst immer getan hatten, so anzuordnen, dass selbst in einem durchs Fenster brechenden Sturm kein Holz das andere berührte.
    Als sie nacheinander durch den engen Schacht ins Freie krochen, tönte von hinten das leise Tack-Tack, und sie, Marga, schon fast Mira, drehte sich noch einmal um und sah das nickende und grinsende Wächterheer, doch da war sie schon draußen im Leben und wollte nicht mehr zurück. Ihr Plan vom endgültigen Ausbruch aus dem Heim war nahezu perfekt gewesen. Mittlerweile winkten die Türsteher des Club Fatal sie aus der Schlange nach vorne, weil Gila mit einem von ihnen ging. Sie ging auch mit den anderen, doch daswusste nur sie, Mira, die Zwillingsschwester. Sie schworen sich, keinen Schritt im Leben mehr ohne die andere zu tun, und den Schwur setzten sie um, in jeder Minute der Samstagnacht. Im Hinterzimmer schlief der Türsteher erst mit Gila, dann drehte er sich auf der Pritsche um und schlief mit ihr. Sie rutschten gerade noch rechtzeitig zum Gottesdienst durchs Waschküchenfenster, Gila warf die Bluse über und knöpfte sie in der Eile schief zu, über der Brust prangte ein Knutschfleck. Beim Gottesdienst konnten sie sich das Kichern nicht mehr verbeißen, Strafe: zwei Wochenenden Hausarrest. Egal, es gab ja das Fenster. Der Türsteher hatte versprochen, ihnen eine Anstellung an der Bar zu besorgen, auch Schönheitstanzen auf der

Weitere Kostenlose Bücher