Moor
beide Namen sagten ihm nichts.
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Sie geht voraus, gibt die Richtung vor und hat doch kein Ziel, nur das Gefühl, laufen zu müssen, immer an gegen denRückenschmerz. Und das Auto?, ruft Röcker von hinten. Bringen wir nachher zu deinem Vater. Ha, sagt er und holt auf, der sei schon längst tot, hopsgegangen über einem Benz. Sie spürt die Erschöpfung, die Müdigkeit oder Verletztheit ihres Körpers, der sich an ihn lehnen will, Berührungen fordert, die nicht fehlgehen, sie nicht kalt von hinten erwischen. Trinken wir was, sagt er und deutet auf eine vorüberfliegende Bar, oder ist sie es, die an der Möglichkeit zur Ein- und Umkehr vorüberfliegt? Das Bild, dem sie entgegenhastet, zerfließt vor ihren Augen, wenn sie ihren Blick nur ein wenig vom Fluchtpunkt weg und hin zu den Rändern bewegt, wie das anvisierte Objekt am Rand des Sichtfelds einer Lupe – fast, denkt sie und sagt: Lassen wir den Drink aus, hätte sie sich die Chance eingeräumt, innezuhalten, es dieses Mal anders zu machen, sich tatsächlich auf Röcker einzulassen, ihn vielleicht sogar zu mögen oder, wenn er sie abermals enttäuscht, ihn einfach nur auszuhalten. Das Bild würde vorüberziehen, übergehen in das nächste, sie könnte es betrachten, über seine Unvollkommenheit zuletzt lachen. Sie geht weiter, durch den Regen über Gehsteige und Straßenmüll immer hinein in den grauen Dunst, der sich zwischen den Häuserzeilen zu einer frühen Dämmerung verdichtet. Sie hat diesen Plan. Sie wird ihn umsetzen, zur Perfektion treiben und ihn, sollte er sich nicht ihrem Willen beugen, mit der gleichen Wucht zerstören. Auch Röckers irgendwie römisch geschnittenes Gesicht scheint ihr ein Januskopf, der sich nach dem Fick umdrehen wird und ihr, während sie schon den Koffer packt, die Fratze zeigt, und genau darauf hat sie es abgesehen. Sie will die Verzerrtheit, seine Lächerlichkeit, das große Bild am Ende dieses ziellosen Marschs.
In einer Gasse auf dem Kiez packt er sie am Arm, bringt sie zum Stehen. Das ist doch Scheiße, keucht er, noch mal so eine schnelle Nummer irgendwo. Er schaut sie jetzt von unten herauf an, vorwurfsvoll – oder doch flehend? Das dunkle Haar klebt ihm auf der Stirn, aus den Barthaaren perlen die Tropfen. Dass es ihm leidtue, quengelt er. Was?, erwidert sie ungeduldig. Die Sache damals auf dem Klo? Nein, sagt er, jetzt sichtlich beleidigt, das mit dem Baby und dem Fünfmarkstück. Sie lacht auf, ein paar Passanten drehen sich um; sie kann, sie will jetzt nicht mehr aufhören. Spinnst du?, fragt er. Der Regen strömt ihr in den aufgerissenen Mund, brennt in den Augen, oder ist es der zerfließende Puder? Sie wäre statt in die Galerie besser gleich ins Modehaus gefahren, und sie blickt auf die Uhr, kurz vor drei. Schiereisen ist unerlöst wieder nach Hause, jetzt winken die Herren von der Hansawerft und der japanische Schiffsschraubenbauer ungeduldig mit ihren Dollars, und Siana hat vermutlich eine andere vorgeschickt, und das, so dreht es sich in ihrem Kopf weiter, wird das Ende meiner Karriere im Modehaus sein. Sie kramt ein Tempo aus der Handtasche und wischt sich über Augen und Mund, mit dem Regenwasser auf ihren Lippen geht die Lexotax gut runter.
Meine Mutter, sagt sie, ist bei meiner Geburt gestorben; nur langsam beruhigt sich ihr Atem. Es habe Komplikationen gegeben, außerdem wieder Bombenalarm, dreiundvierzig, alle Rettungskräfte seien im Einsatz gewesen. Sehr witzig, versucht Röcker seine Gekränktheit zu überspielen, und dein Vater? Gott ist mein Vater, droht sie und grinst, das habe man ihr im Heim gepredigt. Er deutet achselzuckend erst in den immer stärker werdenden Regen, dann auf den Schaukasten des kleinen Lichtspieltheaters, das ein paar Schritte weiter mit Filmplakaten um Besucher wirbt. Kino?, fragt er,und Marga will protestieren, doch da steht er schon am Kartenschalter und lässt die Münzen auf das Zählbrett klirren.
Sie kaufen Süßkram, kaufen Cola, legen ihre Ellenbogen auf die Armlehne. Der Film, dessen Nachmittagsvorstellung bereits begonnen hat, heißt Der letzte Tango in Paris und ist kein Tanzfilm, wie sie anfangs dachte, sondern laut Röcker ein handfester Skandal. Während der ersten halben Stunde bewegt er sich auf seinem Sitz so gut wie nicht. Sein linker Arm ruht auf der Lehne, der Blick ebenso starr auf der Leinwand, nur mit der rechten Hand führt er ab und zu den Colabecher an den Mund, die Tüte mit den Süßigkeiten ist unterm Sitz verschwunden. Sie hat einmal,
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