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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Bühne wäre möglich gewesen, und sie tanzten gut. Stets bildete sich ein Kreis um sie, nicht nur die Männer johlten und klatschten, wenn sie zu I love you, Baby die Tote Frau beim Rock ’n’ Roll mimten oder sich zu Freddys Heimweh küssten. Der Besitzer, erinnert sie sich, einer um die vierzig, der nichts anbrennen ließ, aber, wie es unter den Kellnerinnen hieß, nicht unübel sei, lud sie in ihrer letzten Samstagnacht zu einer Flasche Champagner ein. Er fummelte mit ihr, Mira, an der Bar, dann verschwand er für den Rest der Nacht mit Gila, die sich, bevor sie ihm ins Büro folgte, noch einmal zu ihr umdrehte und den Daumen in die Luft streckte. Sie war eifersüchtig gewesen, doch nicht auf Gila, sondern auf ihn.
    Ein Typ spendierte ihr an der Bar mehrere Whisky-Cola. Bevor sie mit ihm ging, streckte sie die Hand aus. Er glotzte sie entgeistert an, legte aber dann einen Zehner hinein. Sie zog die Hand nicht zurück, er knüllte widerwillig einen weiteren dazu. Erst in der Morgendämmerung kam sie zurück, Gila saß betrunken an der Bar. Die Freundin rutschte vom Hocker, packte sie an den Schultern und schüttelte sie; wasdas solle, sie hätten sich doch versprochen, alles zusammen zu machen! Die Konsonanten kriegte sie nicht mehr hin, das Kajal um ihre Augen war verschmiert. Hatte sie geweint? Sie zeigte Gila grinsend das Geld, doch die schlug es ihr aus der Hand. Übrigens sollen wir zum Vortanzen kommen!, zischte sie und rannte auf die Straße. Es war ihr erster Streit gewesen, ein Riss des Tageslichts im Wunder der Nacht.
    Der zweite folgte wenige Minuten später im Waschküchenfenster. Draußen war es schon hell. Der Mond stand als blasses Ei am Himmel, wirkte fleckig und zerknautscht. Sie sprang aus dem Schacht in den Keller und Schwester Marita direkt vor die Füße. Gott sieht alles, rief die und ratschte einen Kleiderbügel von der Leine, dahinter schwangen die hundert, begannen zu klatschen wie vor Stunden die tanzende Menge nach ihrem Twist. Wenn du schreist, kriegst du es doppelt, sagte die Diakonisse, da beugte Magret sich vor und biss in die Lehne des Stuhls, während Gila, die draußen Schmiere gestanden hatte, ein letztes Mal über das Mäuerchen und hinüber auf die Straße setzte, wo Gottes Blick endete und das Leben begann, wie laut in diesem Moment die Kleiderbügel auch zur Umkehr schlugen.
    Doktor Mellrich nähte meist ohne Betäubung; die Platzwunden von Pausenhof und Tartanbahn, die Messerschnitte an den Fingern der ungeschickten Mädchen vom Küchendienst, die Stigmata der Wunder. Sie schrie so laut, dass die Krankenschwester ihr die Hand auf den Mund presste. Magret biss zu. Die Diakonisse packte sie an den Haaren, drückte sie auf die Liege und hielt Arme und Füße fest, während Doktor Mellrich ihr den Schlüpfer auf die Schenkel zerrte. Sie spürte seinen Finger wie ein Stück Metall. Sie habe mit ihrer Vermutung recht, sagte er zur Krankenschwester und zogdie Hand heraus, Hymen nicht tastbar. Sie fuhr hoch und spuckte dem Arzt ins Gesicht.
    Die Samstagabende ihres letzten Heimjahres verbrachte sie in der Mangelküche, wo sie die Ordensblusen zu bügeln hatte, oft fünfzig Stück hintereinander. Die Kleiderbügel hingen still. In den Schacht hatte man ein Gitter eingelassen. Den Mond sah man von hier aus nicht. An langen Sommerabenden fiel das Licht der untergehenden Sonne durchs Kellerfenster und warf die Schatten der Eisenstäbe auf die weißen Kacheln, Linien und Kreuze, die durch den Raum krochen, sich langsam krümmten und mit dem Fugenraster komplizierte Figuren formten, bis die Muster vor der Mangel verloschen, und nur weil sie irgendwann angefangen hatte, in den Bügelpausen die Wanderschaft der Schattenbilder auf Papierbögen nachzuzeichnen, hat sie, so glaubt sie heute, an diesen taubstummen Samstagabenden den Glauben an die Zukunft nicht gänzlich verloren.
    Ein Jahr später, nach ihrer Entlassung, war sie wieder zum Club Fatal gegangen. Der Türsteher, mit dem sie damals geschlafen hatte, stand am Eingang und winkte die hübschesten Mädchen aus der Schlange herein, auch sie. Es war, erinnert sie sich, einer mit ausgeprägtem Schlüsselbein gewesen, sie hatte damals ihren Kopf darauf gelegt, Gila war von der anderen Seite gekommen, bis sich ihre Nasenspitzen berührten, und sie hatten sich angegrinst, während ihre Gesichter sich auf der haarigen Brust hoben und senkten. Jetzt erkannte der Typ sie nicht mehr. Sie stellte sich als Mira vor und fragte nach Gila, doch

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