Moor
jetzt abgekämpft vom ziellosen Zickzacklauf durch den Regentag, immer herum um die entscheidende Berührung. In seinem blassen Gesicht geistern die Schatten undScheinwerferlichter der Straße. Obwohl es noch Nachmittag ist, kurz nach vier, stellt sie mit einem schnellen Blick auf die Uhr fest, scheint es bereits zu dunkeln wie im Winter.
In einer halben Stunde muss sie den Jungen anrufen. Die Ampel steht hartnäckig auf Rot, die Zeit auf der Pausetaste, aus dem Stillstand ragen die Häuser von Altona, türmen sich nach Süden zur Elbe hin und im Westen immer weiter Richtung Meer, das, denkt sie, ein besseres Ziel gewesen wäre, in einer knappen Stunde zu erreichen, vielleicht hätte sich an der Küste die Wolkendecke gelichtet, sich dazwischen sogar die Sonne gezeigt. Ein Spaziergang am Strand, eine Fahrt durch die Salzwiesen auf seinem Motorrad, dicht an ihn gepresst mit dem Knattern des Windes in den Ohren und dem leisen Knirschen der Lederjacke, während sie den Kopf gegen seinen Rücken lehnt und ihre Hände unter die Kleidung und über seine Brust hinauf bis zur Schlüsselbeinmulde wandern, wo später, wenn sie nebeneinander ausgestreckt auf dem Bett irgendeines Fremdenzimmers liegen, ein Tropfen glitzert. Irgendwo draußen summt eine Landmaschine, drinnen der Heizlüfter und noch tiefer im Innern das Blut in den Ohren.
Hatte sich ein solches Bild von einem Liebesausflug ans Meer nicht schon einmal als Trug und Täuschung erwiesen, die so lange mit sehnsuchtsvollen Gedanken beackerte Vorstellung sich plötzlich aufgelöst in einer Nebelnacht über der Marsch? Sie beugt sich vor und schnappt nach Röckers Mund, der erschrocken zurückzuckt, nicht der Mund, aber der ganze Kerl gegen die Frau, die ihr noch immer brüllendes Kind in den Wagen packt und davonkurvt, an Röcker vorbei, der einen Schmerz- oder Hohnlaut zischt und sich mit der Hand über den Mund fährt.
Auch Dions Vater, erinnert sie sich, hatte sie den Kuss, den sie für den nächtlichen Strand hatte aufheben wollen, für einen Sternenhimmel vielleicht mit rasch am Firmament verglühenden Wünschen, auf die Lippen mehr gebissen als gedrückt, am Straßenrand irgendwo hinter Itzehoe, wo der Motor verröchelte und er, Dions Vater, der stets Wortkarge und im Gespräch eher Ungeschickte, plötzlich, als hätte er den Benzintank für einen solchen Moment der Ausweglosigkeit absichtlich leergefahren, ihr die Arbeit im Modehaus aus- und die Buchhalterei auf dem Bauern- und Torfstecherhof einzureden begann, eine qualvolle halbe Stunde lang Hamburg aus ihrem Kopf heraus- und Fenndorf hineindiskutierte, bis sie erschöpft die Tür aufstieß und ihn aus dem Wagen bugsierte, durch die Nebelbänke über ein Feld, das regensatt unter ihren Schuhen schmatzte, als wollte es ihr einen Vorgeschmack auf ihre Zukunft im Moor geben, und sie zog den Mann, der sie mit Eheversprechen und Glücksverheißungen aufzuhalten versuchte, zu einem Gasthof auf der anderen Seite des Ackers, wo noch ein Licht brannte und sie in einem kalten Bett mit steifer Wäsche ihren Kopf auf seine Brust legte und die Nase gegen die Gurgel drückte, als könnte sie die Mulde dort doch noch graben. Immerhin, dachte sie, hatte er ihr ein eigenes Atelier versprochen, hundert Quadratmeter in der Scheune nur für dich und deine Arbeit, lockte er noch einmal und löschte die Nachttischlampe. Sie rutschte an ihm herunter, knipste das Licht wieder an und zeigte ihm, was sie im Gegenzug zu bieten hatte; malen und dazwischen mit einem Mann schlafen, den sie begehrte, der sie aber dafür in Ruhe ließ, mehr hatte sie von ihrer Zukunft nie gewollt, ein Plan, der ihr nun perfekt schien, eine Nacht lang, wenige Kilometer vor der See, die heranrollte und zurückschäumte, Wellen, die sich auftürmten, brachen, wiederin sich selbst versiegten und dabei jedes Mal einen Schwall Sand mitrissen, ein Stück Land abtrugen, es woanders wieder anschwemmten und in der immergleichen Bewegung des Aufbegehrens und Erschlaffens, Erinnerns und Vergessens ein wenig näher herankamen an das sich liebende Paar, das hier, weit hinter den Deichen und im ängstlichen gegenseitigen Belauschen ihrer Gedanken, von der Brandung draußen, dem Rufen und Warnen des Meeres, nichts hörte.
Rückblickend, so glaubt sie heute, muss es die Nacht gewesen sein, als sie mit ihrem Jungen schwanger wurde. Sein Vater zog am Morgen mit einem Benzinkanister los. Auf der Rückfahrt sprach er wie gewohnt kein Wort, nur sein stummes Gesicht flehte
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