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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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hinaus in die herabdrängenden, niederzwingenden Wolken und manchmal mit einem langen Seitenblick zu ihr hin, so dass der Wagen an einer Ampel beinahe in die Stoßstange des Vordermanns gekracht wäre. Dein Stolz bringt mich noch um Kopf und Kragen, fluchte er und ließ die Hupe gellen, was er damit meinte, weiß sie bis heute nicht, die Ampel sprang erst eine halbe Minute später auf Grün. Doch sie hat seine Not ernst genommen und ist noch am selben Tag mit ihm nach Fenndorf gegangen.
    Wollen wir dein Motorrad holen?, fragt sie Daniel Röcker. In der Werkstatt, zuckt der die Achseln. Da stürmt sie los auf die Straße, bleibt erst wieder vor der Hofeinfahrt in der Kleinen Marienstraße stehen, schaut zurück, schüttelt den Phantomschmerz im Rücken endgültig ab. In Röckers langsam näher kommenden, bernsteinfarbenen, zweifellos schönen Augen sieht sie erst das draufgängerische Blitzen des Erfolgsmalers, dann, als er neben ihr steht, das Misstrauen, die Zweifel, all die Fragen. Ich bin jetzt da, sagt sie mit einem Wink in die Einfahrt, und er: Ich auch.
    Vom Kino bis in den Hinterhof, wo zwischen Mülltonnen und unverputzten Garagen der Wareneingang des Modehauses liegt, sind es keine fünfhundert Meter und mit der Wartezeit an der Ampel höchstens fünf Minuten gewesen, und doch zittern auf der Türschwelle ihre Beine, als hätte sie eben nicht nur den Kiez, sondern einen ganzen Kontinent durchquert, zittert und zuckt das so lange gemalte und leidenschaftlich verfolgte Bild vom Wunderleben noch einmal auf und erlischt.
    ◆◆
    Entschlossen kam am Morgen der Herbst ins Dorf und setzte mit seinen Farben die Obstgärten, Friedhofsbuchen und Rabatten in Brand. Bis Mittag noch malte er den Wassergesichtern der Kopfweiden schlampige Laubbärte, doch kaum über den Graben hinweg, verlässt ihn die Lust. Er zündelt ein wenig in der Rosmarinheide, schafft in den welkenden Blüten nur ein gewöhnliches Braun. Hier und da setzt er noch ein paar rote Tupfer, die winzige Moosbeere, eine in Frucht stehende Eberesche, am Rand der ersten Schlenke, hinter dem Feld aus vertrocknetem Adlerfarn, wollen die Sonnentaublätter einfach nicht leuchten. Verdrossen kippt er sein Schlammgemisch über den Schwingrasen aus und eine Menge Schwarz in die Mulden und Spalten. In der Nässe nistet sich die Fäulnis ein, ohne sich des Überfälligen anzunehmen. Die Pflanzen verdämmern in einem Halbschlaf unschlüssiger Vergänglichkeit. Früchte, wenn überhaupt gestreut, verrotten zwischen den Binsen, ohne Samen zu säen, und was doch tiefer in die Erde gelangt, wird von der Torfsäure versteinert. Bei den Gruben sacken die vergessenen Soden in sich zusammen oder dunsen prall vom Regen zu schwarzen Ungetümen auf. Wo zuvor noch das Straußgras in dichten Büscheln stand, strömen jetzt Bäche, steht der Himmel unbewegt in den Pfützen, der Wind treibt ein verlassenes Schwarzkehlchennest vor sich her. Die Spur deiner Flucht verwischt der Morast. Er quillt herauf, schnappt nach allem, was ein wenig Sehnsucht zeigt, zieht es ein Stück in den Grund und lässt es angebissen liegen. Bei Einbruch der Dunkelheit weht aus der Ebene der Geruch unvollkommener Verwesung, und nur wer ihn kennt, weiß, dass ich zischelnd im Wollgras, knackend aus den Gehölzen, gluckernd am Rand der Tümpel und schweigend in ihrer Tiefe an meiner schwierigen und langwierigen Arbeit bin, für deine Zukunft und gegen die Zeit.
    Du tauchst auf. Ein letztes Mal zerre ich an dir, lass dich dann frei. Du glaubst dich nackt und in Lebensgefahr, ein weißes Gefühl wie aus dem Traum, aus dem Marga dich am Morgen geweckt hat. Einen Moment lang weißt du nicht, wo du bist. In dem Traum warst du draußen bei mir am Kolk, dort, wo Himmel und Erde sich berühren und das Land in Wasser übergeht, wo beides eins wird und sich erst wieder trennt, wenn du den Horizont überschreitest. Du hast den Himmel unter und das Wasser über dir gesehen, bist geschwommen und gleichzeitig geflogen, mit einem Körper aus Torf. Später, in vielen Jahren, wenn du dir diesen Zustand noch einmal ins Gedächtnis rufen wirst, um ihn in deinem Buch möglichst genau zu beschreiben, wird dort stehen, du bist an diesem Tag das erste Mal gestorben.
    Vom Tod sagt man, das ganze Leben zöge noch einmal wie ein Film vor dem inneren Auge vorüber. Das Gehirn beschwört längst vergessene Bilder herauf: Du siehst Tanja am Morgen vor dem Klassenzimmer stehen, eingepackt in ihrengelben Mantel, nur das hagere Gesicht

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