Moor
Kopf gezuckt war: Kar-Kar, der Neffe von Marianne Lambert, der also auch mit ihr, Marga, entfernt verwandt war und in Wirklichkeit Karsten Karmstedter hieß, im Nachbardorf Kleenze lebte und zwölf Jahre älter als Dion, aber auch ein Stotterer gewesen ist, der, weil er bei seinem Namen immer nur bis zur ersten Silbe kam, von allen Kar-Kar gerufen, also schon als Kind zum Krüppel herabgespöttelt, erst zum Sprech-, dann, später, durch die üblen Nachreden seiner Bekannten und Verwandten, zum sogenannten Seelenkrüppel verhunzt wurde. Erst, so tratscht man im Dorf, sei Karsten Karmstedter in Hamburg an die Männer, dann, wegen einem dieser Männer, in der Nervenklinik an die Elektrokabel gekommen, dazwischen fast unter die Räder eines D-Zugs, der Knecht des Bauern Lambert nämlich hatte Kar-Kar eines Abends vom Bahndamm am nördlichen Moorrand regelrecht herunterprügeln müssen, so fest entschlossen sei der Unglückselige gewesen, sich vom Eilzug Hamburg–Bremen den von der Männerliebe verwirrten Kopf abtrennen zu lassen, der aber nun – Gott sei Dank!, hörte sie, Marga, bei einem Einkauf Ilse Bloch im Laden sagen – durch die Elektro-Behandlung wieder ins rechte Lot gerückt worden sei, nicht gerückt, geschockt , hatte Marga gedacht und hinüber zur Kasse gelauscht, wo die Bloch erzählte, Kar-Kars in widernatürlichen Liebesphantasien wuchernder und beinahe zerplatzter Kopf sei nun wieder repariert. Exekutiert der geliebte Mann, der darin wie ein Stachel festgesessen haben musste, dachte Marga, die Sprachstörung angeblich auch, denn Kar-Kar, so die Bloch weiter zur Kundin, spreche nun in der Anstalt kein Wort mehr, nicht einmal mit der eigenen Mutter, Siegried Karmstedter, Marianne Lamberts Schwägerin, die er anscheinend nicht mehr erkennt, wenn sie ihm sonntags seinen Lieblingskuchen bringt, den Bienenstich.
Da ist sie mit leerem Korb raus aus dem Laden und im Laufschritt nach Hause zu ihrem Jungen, den sie in der Küchefest an sich gedrückt und dessen Hand sie umklammert hat, ähnlich verstört oder beschämt, wie Daniel Röcker nun ihre Hand zu bearbeiten beginnt, als im Film der Amerikaner die Französin an den Handgelenken packt und sie zwingt, während er rückwärtig in sie eindringt, die von ihm so genannten Kernsätze nachzusprechen, die der am Boden kriechenden und keuchenden Frau erklären, warum sie von nun an arschgefickt werden will oder muss, und tatsächlich heult und winselt sie nun etwas von einem Kind, das, so der Kernsatz, so lange gefoltert wird, bis der Wille gebrochen ist und die Freiheit gemordet, und wieder muss sie dabei an Kar-Kar denken, wie er, bevor ein anderer Zug auf einem anderen Bahndamm seinen Kopf wenige Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus doch noch erwischt und von seinen Qualen erlöst hatte, stumm in seinem Stuhlkreis neben all den anderen Elektrogeschockten gesessen haben muss, die den Farben, Filmen und Sonnenuntergängen endgültig abgeschworen und sich dem Schwarz und dem Weiß ergeben haben, dem Schwarz traumloser Nächte und dem Weiß ebenso bildloser Wände in der geschlossenen Abteilung der Nervenheilanstalt, wo Siegried Karmstedter ihrem Sohn verzweifelt den duftigen Bienenstich in den Mund zu schieben versucht, der endlich, wie es schon immer ihr Herzenswunsch gewesen ist, nach all den Mühen, das verstockte und verirrte Kind mit Beharrlichkeit, mütterlicher Liebe und medizinischen Therapien aufs rechte Gleis zu setzen, nicht mehr bockt und krampft, da ist sie hoch aus dem Kinosessel und über die ineinander verknoteten Arme und Beine der Liebespärchen in ihren rotorangenen Logen raus ans Licht.
Der Himmel ist weder noch, als sie aus dem Foyer ins Freie taumelt, nicht schwarz, nicht weiß; der Tag scheint ihr inallen Belangen auf halber Strecke hängengeblieben, über ihr das Regenband. Sie geht an den Häusern entlang, auf die dröhnende Holstenstraße zu, von der auf der anderen Seite die Kleine Marienstraße abzweigt, wo das Modehaus liegt, es wird nun keine Umwege mehr geben. Nach zwei Minuten hat Röcker sie eingeholt. Was ist los?, ruft er atemlos und packt sie am Arm. War doch spannend! Sie schleift ihn mit sich wie ein trotziges Kind.
Hat dir das gefallen?, fragt sie.
Was?
Wie die Nutte dem Kerl den Finger in den Arsch steckt.
Sie schüttelt ihn ab und eilt weiter. Das sei doch keine Nutte gewesen; er holt auf, marschiert vor ihr her, lässt sich jetzt nicht mehr abhängen. Auf der Holstenstraße läuft sie fast vor ein Auto,
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