Moor
dem Haar und schüttelte die Mähne. Ich bin siebenundfünfzig, sagte sie, mein Schamhaar ist noch nicht grau, aber seit zwei Jahren hat mich trotzdem niemand mehr gefickt. Und du? Die Freundin glotzte entgeistert. Julius zog genervt die Augenbrauen zusammen, dann glättete sich sein Gesicht wieder, erstarrte zum gewohnten Ausdruck des Götzen. Wer das sei, zischte seine Begleiterin. Warum trägst du deine Strickjacke nicht?, konterte Marga. Die junge Frau hatte ihre Hand aus Julius’ Faust zurückgezogen. Sie schien etwas sagen zu wollen, bewegte aber nur stumm den Mund, der auch ohne Lippenstift hübsch war. Marga beugte sich über ihren Hals, roch zartes Parfum, Weichspüler. So kriegt er doch keinen hoch, Mädchen, seufzte sie. Zum ersten Mal fiel ihr Julius’ Augenfarbe auf, ein kaltes, gläsernes Grün. Du bist erbärmlich, sagte er und mied ihren Blick. Aber einen Ständer, entgegnete sie, hattest du trotzdem nicht. Was will die von dir?, rief die Freundin mit schriller Stimme und klammerte sich an der Tischkante fest. Marga lächelte mitleidig auf sie herab und sagte: Komm in fünfzig Jahren wieder.
Der Weg zum Ausgang war verstellt von jungen Körpern mit makelloser Haut, ein Gebirge aus Marmorbrüsten, Muskelgraten, Schlüsselbeinjochen. Sie fixierte die ferne Tür, hoffte, bis dahin nicht abzustürzen. Die enthemmende Wirkung der Tabletten war von einer Sekunde auf die andere in Taubheit und Schwindel gekippt. Niemand beachtete sie, kaum jemand machte Platz, sie quetschte sich durch feuchtwarme, von Bieratem erfüllte Spalten und an den Spitzen der Ellenbogen vorbei, die ihr im Takt der Technomusik in die Seite stießen. Plötzlich hörte sie jemanden von hinten Alte Kuh! rufen. Julius? Oder war es der Typ, den sie gerade angerempelt und dem sie dabei das Getränk über die Brust geschüttet hatte? Waren nur wieder ihre Gedanken laut geworden, hinter dem Lärm des Lokals, der ihr wie Pfropfen in den Ohrensteckte? Sie fuhr herum, suchte im Gewirr der Leiber den grünen, vergletscherten Blick, zog ihr Kleid hoch und zeigte ihm, was er verpasst hatte.
Erst draußen erlaubte sie sich die Schwäche. Auf der Stufe knickte sie um, taumelte über das Pflaster, an Türlöchern vorbei, die schwül die Nacht ausdünsteten, Körperhitze, wabernde Beats, Gelächter. Drüben wälzte sich träge der Strom auf der Reeperbahn. Sie stieß sich voran, zurück auf die Holstenstraße und bei Rot in die Sackgasse vor das Parkhaus, am Ende einer lebenslangen Bewegung, die ganz zu Anfang, schreibst du, das Zittern eines Kleiderbügels an seiner Stange gewesen war.
Sie schlägt das Buch auf, an der Stelle mit einem Zickzack im Druckbild, wo sie den Lärm nicht mehr ausgehalten hatte und fliehen musste. Dort liest sie, wie in ihrer Hand noch immer der Bügel zuckt, mit dem sie Siana niedergeschlagen hatte, er zuckt und zerrt sie voran, heißt es, mühsam bringt sie die Worte in einen Zusammenhang, entlang schlingernder Zeilen, durch die sie sich vorantastet wie beim Malen, und die Worte mehr malend als lesend, kämpft sie sich durch deine Sätze und folgt dem hastenden Strich der Erinnerungen, stolpert mit flimmernden Augen und bebendem Körper weiter und liest, wie ihr Körper, bebend, schreibst du, durch die Straßen, die flimmernden, stolpert, vorangeschleppt von dem Kleiderbügel, der noch immer in ihrer Hand schwingt und sie nun über den Kiez treibt, an Kerlen vorbei, die ihr Angebote zuzischen, und sie stürzt in den nächsten Absatz, wo der Kleiderbügel sie über die Stadthausbrücke und den Mönkedamm lenkt, an der Galerie vorüber, vor der das Ding in ihrer Hand wie eine Wünschelrute ausschlägt, doch sie hält dagegen und eilt weiter, an den Nobelboutiquen und Hotelsvorbei auf die Mönkebergstraße und in das Gedränge der Menschen, die mit prallen Tüten und Taschen aus den Geschäften strömen, als wäre es bereits kurz vor Weihnachten, und sie denkt, falsch, sie liest in deinem Buch: Weihnachten, und dass sie ihrem Jungen dieses Jahr etwas Besonderes schenken müsse, denn zum Geburtstag seien ihre Gaben recht knickerig ausgefallen, und der Kleiderbügel nickt und führt sie direkt hinein in die Buchhandlung und zielsicher vor das Regal mit den gebundenen Lexika, und eine Verkäuferin heftet sich ihr an die Fersen und sieht, wie die Kundin mit dem Kleiderbügel ein Naturlexikon aus dem Regal reißt, und die Buchhändlerin fängt den Band auf, auch den nächsten und übernächsten, alle sechs Exemplare stürzen
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