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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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dabei nicht einmal an. Du hast die Kälte aus der Kloschüssel gespürt, das schwarze Gefühl im Unterbauch, der sich zusammenkrampfte, während dein Inneres gleichzeitig nach außen zu drängen schien, ins Rohrloch, wo der weiße Rochen lauerte, ausgehungert von all den Jahren, in denen du ihn in die abseitigsten Tiefen deines Bewusstseins verbannt und so gut wie vergessen hattest. Nun war er zurückgekommen, um sich zu holen, was ihm zusteht.
    Sie schloss dich noch fester in ihre Handhöhle – oder war es schon das Maul des Fisches? Der Gedanke, dass du nun mit ihm gehen müsstest an den dunklen und kalten Ort ihrer Herkunft, legte sich lähmend und endgültig auf dich, und wenn da in dir noch eine Sprache gewesen wäre für das, was gerade passierte, ganz bestimmt hättest du in deinem Schrei nicht mehr gestottert. Damals aber war das Gefühl stumm, auch seine Farbe noch unbestimmt, kaum eine Empfindung, eher etwas Rohes und Unbegreifliches, das dich überflutete und mit sich riss wie eine große, vernichtende Welle.
    Du hast die Schenkel noch weiter geöffnet, im Bauch schon das Rieseln gespürt, Wasser, das in dich drang oder aus dir heraus, als wäre deine Haut nur noch ein Sieb. Sie beugte sich vor. Du sahst die Schweißflecken unter ihren Achseln, den Grind auf den Lippen, die verwischte Schminke, ihre Verzweiflung. So nah, wie sie jetzt war, so grob und gierig, fandest du sie abstoßend und fremd. Das, fragst du an dieser Stelle in deinem Buch, sollte deine Mutter sein?
    Da verformte sich auch schon ihr Gesicht, wurde weiß und flach. Sie spürte dich kommen und drosselte das Tempo. Ihr Blick war jetzt starr und glasig, er ruhte auf dir und ging doch durch dich hindurch, seelenlos, schreibst du, wie von einem Tier, den Kühen oder Pferden auf der Weide, die dich angestarrt hatten, wenn du als Kind am Gatter vorübergelaufen warst, eher geschlichen, mit diesem Gefühl von Ertapptsein, als müsstest du etwas vor dem Vieh verbergen, und noch hinter dem Drän, der die Magerwiese mit den hochaufschießenden violetten Dolden des Knabenkrauts am Rand der Blänke gegen das Moor abschloss, spürtest du dieschwarzen, die Leere und Weite der Ebene widerspiegelnden Augen auf dir ruhen, die dir gleichgültig folgten und sahen, wer du in Wirklichkeit bist, ohne dich dabei zu erkennen.
    Mein armer Junge, sagte der Rochen, riss sein Maul auf und stülpte die kalten Lippen über dich.
    Sie klappt das Buch zu und hebt den Kopf aus dem Morast deiner Erinnerungen in die neblige Luft über dem Altonaer Balkon, wo sie auf einer Parkbank endlich die ersehnte Ruhe gefunden hat, in dem offenen, von keinem Menschengesicht und Menschengeschlecht mehr bedrängten Blick auf den Köhlbrand, der Süder- und Norderelbe zu dem großen Wasser vereint, das an dieser Stelle schon kein Fluss mehr ist, aber noch nicht das Meer. Sie sieht die hoch in die fahle Dunkelheit gehängten Lichter des Hafens, links die Innenstadt mit ihren in den Himmel strahlenden, den Himmel über Hamburg wegstrahlenden Häusern und im Westen, wo die Elbe sich herauswälzt aus ihrem steinernen Pferch der Kaimauern und Molen, einen schwarzen Horizont ohne Linie, Schichten aus glitzerndem Wasser, glitzerndem Land und beider Glanz verschluckendem Dunst, die Nacht über der fernen Küste wie einen riesenhaften Schwamm, der die Welt aufsaugt.
    Ausgerechnet dort, Dion, willst du sie wiedersehen? Sie hat ja das Meer immer gemieden, wie ihr auch die leere Ebene hinter ihrem Fenndorfer Haus verhasst war, überhaupt alle Landschaften, die sie für unmalbar hält, bildlos in ihrem tiefsten Wesen, weil sie den Blick nicht mehr hergeben, ihn hineinlocken in ihre Ungestalt, herausreißen aus seiner Verankerung im Körper und ihn so, ziellos und von allem Wissen und Wollen entleibt, verschlingen, und zurückgeschlagen von dem trostlosen Bild des nächtlichen Horizonts, blättert sie nun doch wieder das Buch auf, denn noch quälender als das Getöse deiner Beschimpfungen empfindet sie das drückende Schweigen, das sie bei dem Gedanken beschleicht, dir in knapp vier Wochen unter die Augen zu treten, an einem Dünenübergang, wo ihr euch zum Spaziergang verabreden würdet, bloß nicht am Strand, denkt sie und hätte ein Café bevorzugt, vielleicht die abgedunkelte Hotelbar, eine Nische dort, wo man sich ruhig gegenübersitzen und dem Blick des anderen standhalten kann.
    Am Meer aber, stellt sie sich nun vor, würden ihre Augen doch nur immer von ihm weg hinaus aufs Wasser fliehen, und

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