Moorehawke 01 - Schattenpfade
wenig dagegen tun, außer den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass sie über einen hinwegrollten. Ob Jeromes Familie überlebte oder starb, konnte Lorcan nicht beeinflussen, und selbst wenn Wynter Razi überreden konnte, sich für sie einzusetzen, war es unwahrscheinlich, dass der König eine Säuberung aufhalten würde. Solche Vorgänge entwickelten eine eigene Energie, sie überdauerten oder starben ab – wie ein Raubtier überdauerte, solange es nur
über genug Kraft und Ausdauer verfügte, um weiterzumachen und alles zu fressen, was ihm in den Weg kam.
Wynter stöhnte leise. Warum hatte sie sich gestattet, etwas über diese Männer zu erfahren? Es wäre so viel leichter, wenn sie gesichtslose, namenlose, stumme Schatten geblieben wären. Das hätte ihre Ausrottung zwar nicht richtiger gemacht, doch für Wynter wäre es einfacher gewesen, nichts davon zu wissen.
Sie hatten keine Chance, und dennoch hatte Wynter gerade ihrem Vater die hoffnungslose Last aufgeladen, ihnen Beistand zu leisten. Noch dazu waren es Angehörige der Zunft. Der Zunft! Der König ging ein hohes Wagnis ein, indem er sie zur Zielscheibe machte. Die Tischler-Zunft war eine riesige und mächtige Vereinigung, unerschrocken und unabhängig.
Wynter öffnete die Augen wieder. Sie hatte eine Idee. Vielleicht unterlag Jonathon einer Art Wahnsinn oder Selbsttäuschung. Vielleicht war ihm gar nicht bewusst, wie unglücklich sein Volk war. Wenn man dem König nur begreiflich machen könnte, wie aufgebracht und wütend die Menschen waren, dann würde er möglicherweise dieses neue, überaus gefährliche Vorgehen, mit dem er seine Untertanen gegen sich aufbrachte, überdenken!
Doch Wynter konnte ihn nicht selbst ansprechen. Und wenn sie es Lorcan erzählte, würde er ohne Rücksicht auf seine Gesundheit aus dem Bett springen und sich in die tosenden Fluten des Reichs werfen. Ging sie jedoch zu Razi, würde er sich womöglich schweigend abwenden. Sie musste sich also entscheiden: Entweder ertrug sie es, ihre eigenen Gefühle verletzen zu lassen, oder sie musste die Gesundheit ihres Vaters aufs Spiel setzen. Da gab es nicht viel zu überlegen. Sie wandte sich nach links und schlug den Weg zu den Stallungen ein.
Schon von weitem vernahm sie Razis Anweisungen auf dem Übungsplatz. »Wo ist sie aufgetroffen?« – »War das ihr rechter Vorderhuf?« – »Bitte um eine Latte erhöhen, Michael!« Razi übte Sprünge.
Als sie sich dem Reitplatz näherte, wurde das Donnern der Pferdehufe zu einer spürbaren Schwingung in der Luft. Sie konnte es unter ihren Füßen durch die Erde hämmern fühlen. Dieses Geräusch hatte sie schon immer geliebt: den steten Hufschlag im geraden Anlauf des Pferdes auf die Hürde, den verheißungsvollen Doppelschlag, wenn es vor dem Sprung alle Kraft in den mächtigen Hinterhänden sammelte, gefolgt von jäher Stille – wie ein lautloses Pfeifen -, wenn sich das Pferd vom Boden abstieß und durch die Luft segelte.
Es war ein Geräusch, das man nur hier hörte. Auf all ihren Reisen hatte sie nie jemanden so reiten sehen oder auch nur davon gehört. Diese Art der Reitkunst schien es nur in Jonathons Königreich zu geben, und Wynter hatte ihre Eleganz vermisst. Ihren Sinn für Schönheit um der Schönheit willen.
Sie bog um die Ecke und sah, dass Razi im Sattel einer kräftigen kastanienbraunen Stute saß – eines seiner langbeinigen Araberpferde mit den vornehm gewölbten Hälsen. Wynter hatte noch nie ein so leichtfüßiges Pferd gesehen. Razi ritt sie um einen Kreis aus sieben Hindernissen, gelben Staub hinter sich aufwirbelnd. Ohne eine Spur von Furcht oder Zögern führte er das Tier in die Hürden hinein. Auf den geraden Strecken stieg er sanft in den Steigbügeln auf und ab, bei jedem Sprung beugte er sich weit vor. Seine Hände hielten die Zügel locker, sein sehniger Körper bewegte sich in mühelosem Einklang mit dem Tier. Er war ganz in diesen Ritt vertieft und Herr der Lage.
Nach jedem Sprung gab er Anweisungen, woraufhin sich die Reitknechte eilig an den Hindernissen zu schaffen machten,
sie erhöhten oder niedriger setzten. Sie riefen ihm Antworten zu, teilten ihm mit, ob das Pferd die Balken gestreift hatte, welcher Huf schleppte oder anstieß, und beim nächsten Anlauf achtete Razi entsprechend darauf, um eine fehlerfreie Runde zu drehen.
Seine vorherige Anspannung, die beinahe furchteinflö ßende, eiserne Beherrschtheit, die Razi inzwischen fast immer zur Schau trug, war wie weggeblasen. Sein Gesicht war
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