Moorehawke 01 - Schattenpfade
hob Pascal eine Hand, um der wilden Sturzflut Einhalt zu gebieten. »Still jetzt, Jerome!«
Gary fasste seinen Freund an der Schulter. »Das reicht, Jerome«, sagte er sanft, ohne Wynter aus den Augen zu lassen. »Das reicht jetzt.«
Mit einer beschwichtigenden Geste wandte sich Wynter an Meister Huette. Ihre Stimme klang trotz ihrer wachsenden Beklemmung ruhig und leise. »Was ist geschehen?« Es muss etwas Schreckliches sein, dachte sie verzweifelt. Etwas Gewaltiges! Diese heftigen Anschuldigungen, diese kaum beherrschte Feindseligkeit – nichts davon war gestern zu spüren gewesen. Irgendetwas musste passiert sein! Irgendjemand musste etwas gesagt oder getan haben, denn diese Vorwürfe konnten nicht aus dem Nichts kommen.
»Wie kannst du so was tun?«, schrie Jerome. »Den Platz von deinem Vater beim Festmahl einnehmen? Wo er zur gleichen Zeit weggesperrt ist? Vielleicht sogar stirbt. Den ganzen Tag kommt niemand zu ihm außer dir und diesem Araber. Wie kannst du nur – den ganzen Abend lustig mit dem schwarzen Bastard tanzen? Von seinem Becher saufen wie eine Haremsh …«
»Still, Jerome … Schluss jetzt!« Erschrocken zog Gary seinen Freund zurück und zerrte ihn beiseite.
Wynter war fassungslos, wie zu Eis erstarrt.
Jetzt heulte Jerome hemmungslos, stemmte sich gegen den Griff seines Freundes. In Garys Miene standen Trauer und Mitleid, er versuchte, seinen Freund zu umarmen, zog ihn weg von den anderen, die verstört und nutzlos um den tobenden Jungen herumstanden.
Mit Tränen in den Augen deutete Pascal auf den hinteren Teil des Raums, woraufhin Gary und der andere Lehrling im dritten Jahr den schluchzenden Jerome zwischen den Regalen hindurch an die gegenüberliegende Bibliothekswand führten. Man konnte ihn noch hin und wieder hören; ab und zu stieß er ein wortloses Wehklagen aus, als würde der Kummer die Laute herauspressen.
Wynter wollte etwas sagen, etwas fragen, wusste aber nicht so recht, was. Sie öffnete den Mund, doch es kam kein Laut heraus. Nun trat Pascal neben sie, man sah seine Kiefer mahlen, offenbar kämpfte er gegen ein übermächtiges Gefühl an. Endlich zischte er bebend: »Hohe Protektorin.« Es klang, als wollte er ihr noch eine Chance geben. »Wo ist Euer Vater? Wir kamen heute Morgen in der Hoffnung her, ihn anzutreffen. In der Hoffnung, dass wir mit ihm reden könnten …« Er musterte Wynter von Kopf bis Fuß. »Wo ist er, Mädchen?«
Was sollte sie darauf antworten, ohne Lorcans Verletzlichkeit preiszugeben – was um alles in der Welt konnte sie tun? Wynter sah Pascal fest in die Augen und bemühte sich, überzeugend zu wirken, doch sie hatte schreckliche Furcht, nur unaufrichtig und ängstlich zu klingen. »Mein Vater muss sich um wichtige Staatsgeschäfte kümmern, Meister Huette«, sagte sie leise. »Mehr kann ich Euch dazu im Augenblick nicht sagen; Ihr werdet Euch mit meinem Wort zufriedengeben müssen. Bitte – Ihr könnt doch unmöglich glauben, dass ich meinen eigenen Vater zu Fall bringen würde? Dass ich meinen eigenen Vater vergiften würde?«
Immer noch beäugte Pascal sie argwöhnisch. Die beiden kleinsten Jungs hatten sich hinter seinem Rücken versteckt, aus der Sicherheit seines Schattens warfen ihr die mageren Gestalten trotzige Blicke zu.
»Alle haben gesehen, wie du mit dem Araber getanzt hast«, flüsterte einer von ihnen, und Pascal schob ihn sanft aus dem Blickfeld.
Ich habe nicht mit Razi getanzt! , hätte Wynter gern geschrien. Ich tanze, mit wem es mir verdammt nochmal passt! , hätte sie gern gesagt. Wer hat euch solche gemeinen Lügen erzählt? , hätte sie gern gefragt, doch nichts davon würde irgendetwas ändern. Es würde nur dazu führen, dass sie sich gegen diese grauenhaft entstellten Gerüchte verteidigen müsste. Also wandte sie sich wieder Pascal zu. »Was ist geschehen?«, fragte sie noch einmal.
»Sie haben Jeromes Vetter, seine Frau und die Kinder verhaftet. Mitten in der Nacht haben sie sie geholt. Haben das Kleine weinend in der Wiege liegen lassen, bis Jeromes Mutter es im Morgengrauen gefunden hat.«
»Gütiger Himmel!« Wynter schlug sich die Hand vor den Mund. »Was … wie lautet die Anschuldigung?«
»Aufwiegelung.«
»Allmächtiger. Und … die Kinder?«
Pascal sah sie forschend an. Bestürzt stellte sie fest, dass er nach Anzeichen von Falschheit in ihrer Miene suchte. »Die Kinder nehmen sie doch immer mit, Mädchen. Das wisst Ihr genau.«
Sie nickte. Ja, früher hatten sie die Kinder mitgenommen. Immer.
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