Moorehawke 01 - Schattenpfade
Ganze Familien waren in den Kerker geworfen worden. Aber nicht, seit Jonathon auf dem Thron saß, niemals unter seiner Herrschaft. Sie blickte sich kurz um. Am anderen Ende der Bibliothek schluchzte Jerome immer noch, sie konnte Gary leise auf ihn einreden hören.
»Warum?«, fragte sie wieder.
»Donnys Frau … die Frau von Jeromes Vetter … der Mann ihrer Schwester wurde von dem Araber umgebracht, weil er angeblich versucht hat, ihn zu töten.«
Fassungslos riss Wynter die Augen auf. »Meint Ihr etwa … Jusef Marcos?«
Pascal nickte. »Jusef war ein treuer Mann. Er war der Krone treu, Mädchen. Und dafür hat man ihn ermordet, und seine gute Frau ist vermisst, und sein alter Vater auch.«
»Er hat einem Soldaten einen Pfeil durch den Kopf geschossen, Meister Huette! Er hat versucht, Fürst Razi zu töten!« Beinahe hätte sie hinzugefügt: Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Ich sah ihn den Bogen von sich schleudern, als er wegrannte! Doch irgendetwas hielt sie davon ab.
Pascal sah sie durchdringend an. »Die haben einen armen Gärtner zu Tode geprügelt dafür. Hat er etwa auch einem Soldaten in den Kopf geschossen? Oder war das auch nur ein ehrlicher Mann, dessen Nase dem Araber nicht gepasst hat?«
Wynter erinnerte sich an den Gärtner, der ahnungslos in
diesen Tumult hineinspaziert war, seine Sichel von sich geworfen und beim Anblick der aufgebrachten Soldaten die Flucht ergriffen hatte. Oh, der Ärmste! Sie legte die Hände an die Schläfen und schloss kurz die Augen. »Und die Leute glauben, dass Fürst Razi diese Männer getötet hat, weil … Ich meine: weswegen?«
»Die Leute glauben gar nichts. Sie wissen. Sie wissen, dass es passierte, weil diese Männer offen für Prinz Alberon eingetreten sind.«
»Gott steh uns bei!«, flüsterte Wynter. Die tiefe Überzeugung in Pascals Stimme ließ sie schier verzweifeln, sie grub sich die Fingernägel in die Haut. »Und jetzt verhaften sie alle, die Verbindung zu Jusef hatten? Seine Familie?« O Gott. Eine Säuberung. Jonathon macht alles nur noch schlimmer und schlimmer. Was sollten sie nur tun? Sie sah Pascal wieder an, seine Miene war immer noch finster und wachsam. »Ihr seid in Gefahr, Meister Huette.«
»Das müsst Ihr mir nicht sagen«, gab er kalt zurück. Er legte dem kleinen Lehrling, der heimlich nach Wynter schielen wollte, die Hand auf den verfilzten Kopf und schob ihn wieder hinter seinen Rücken. Sie waren alle in Gefahr. Wenn sich die Festnahmen schon bis zu Jeromes unmittelbarer Verwandtschaft ausgebreitet hatten, dann waren seine Freunde und deren Familien und auch deren Freunde nicht sicher. Ihnen drohten Verhaftungen – vielleicht sogar die Inquisition und Hinrichtungen.
Jerome und Gary am anderen Ende des Raums stritten sich jetzt.
Gary sagte gerade: »Jetzt beruhige dich doch! Warte ab, mein Vater wird uns sagen, was wir tun müssen.«
Daraufhin hörte man die zitternde Stimme Jeromes, seine Worte waren nicht zu verstehen. Doch Gary unterbrach ihn
ungehalten: »Genug! Genug! Willst du dich umbringen lassen? Genug jetzt!«
Erneut begann Jerome, laut und hemmungslos zu heulen. Plötzlich wurden die Geräusche gedämpft, als hätte Gary ihn in seine Arme gezogen. Wynter sah eine kleine Hand um Pascals Bein heimlich nach den Fingern des alten Mannes greifen. Ohne hinzusehen, umschloss Pascal die kleine Faust und hielt sie fest.
»Lasst mich mit meinem Vater sprechen«, flüsterte Wynter und zwang sich, Pascal in die Augen zu sehen. »Bitte bleibt hier. Bitte – bitte – lasst Jerome nicht aus der Bibliothek!«
Pascal Huette nickte nicht einmal. Er stand immer noch an genau demselben Fleck, als sie die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Bar aller Hoffnung
L eise schloss Wynter die Tür und lehnte sich einen Moment lang an das Holz. Sie wusste nicht weiter. Das Ausmaß ihrer Verstörung wurde schon dadurch deutlich, dass sie das unvorstellbare Verbrechen begangen hatte, ihr Werkzeug bei dem Trupp eines fremden Meisters in der Bibliothek gelassen zu haben. Das war ungefähr so, als ließe man den Familienschmuck auf einem Baumstumpf in einem Zigeunerlager liegen. Aber sie brachte es nicht über sich, noch einmal zurückzugehen – und außerdem waren die Bengel da drin wohl kaum in der Stimmung, lange Finger zu machen.
Allmächtiger, dachte sie. Was für ein schreckliches Durcheinander!
Was konnte sie unternehmen? Die Wahrheit war: Wenn sich die Räder des Reiches erst einmal in Bewegung gesetzt hatten, konnte man sehr
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