Moorehawke 01 - Schattenpfade
Wynter schlitternd auf der Schwelle zum Stehen kam, schreckte Christopher auf und stieß sich wackelig von der Mauer ab.
Herrje, dachte sie, er sieht keinen Deut besser aus als Vater. Ich werde am Ende beide zurücktragen müssen.
»Was ist?«, fragte er. Sie schwieg, doch ihr verzweifelter Blick reichte aus. Er kam zu ihr, und gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch den stetigen Strom aus Dienstboten.
»Bei Frith! Du störrisches Kamel!«
Bei dieser Begrüßung brachte Lorcan trotz allem ein Lachen zustande. Christopher und Wynter kamen gerade noch rechtzeitig, um sich unter seine Achseln zu schieben und ihn aufzufangen, als er an der Wand hinabglitt.
Wenigstens das können wir für dich tun, dachte Wynter. Ihr Arm streifte flüchtig den von Christopher, als sie beide ihren Vater um die Taille fassten. Wenigstens das.
Endlich erreichten sie Lorcans Kammer und halfen ihm ins Bett. Rücksichtsvoll schlüpfte Christopher ins Nebenzimmer, während Wynter ihrem Vater die Stiefel, das Hemd und die Hose auszog. Dann allerdings schob Lorcan auch sie von sich fort und krabbelte in langer Unterhose und Hemd unter die Decke. Er rollte sich auf der Seite zusammen, wie er es häufig tat, wenn die Schmerzen schlimm wurden. Rasch holte Wynter ihm einen der duftenden kleinen Haschischkekse und sah zu, wie er sich mühsam auf den Ellbogen aufstützte, um ihn zu essen und einen Schluck Wasser zu trinken. Schließlich legte er sich wortlos hin, bedeckte das Gesicht mit der Hand und wartete darauf, dass sie ginge.
»Schlaf gut«, murmelte sie, doch Lorcan gab keine Antwort.
Im Empfangsraum fand sie Christopher im Türrahmen lehnend, die Arme vor der Brust verschränkt. Er beobachtete unverhohlen das geschäftige Treiben draußen, und dieses eine Mal verspürte Wynter kein Verlangen, ihn wegen seines Mangels an Fingerspitzengefühl zu schelten. Vielmehr stellte sie sich neben ihn und sah zu, wie Razis Habseligkeiten fortgeschafft wurden.
Eine Weile schwiegen sie beide, dann murmelte Christopher: »Das kann nichts Gutes für ihn bedeuten.«
Sie verstanden die Gründe für Razis plötzliche Entfernung von ihnen, doch das ging einen Schritt zu weit. Wynter konnte sich einfach nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte. Ungeachtet dessen, wie sich Razi in der Öffentlichkeit verhalten musste, und sogar, wenn er selbst im Kreise seiner Vertrauten unzugänglich blieb – wollte er nachts nicht lieber beschützt und umgeben von den Menschen schlafen, die ihn liebten?
Es war, als stürze sich Razi grundlos in die kalten, schwarzen Wasser des Reiches, als ließe er Christopher, Lorcan und Wynter warm und behaglich in dem kleinen Nest zurück, das er für sie gebaut hatte, während er weiter und weiter in die Finsternis trudelte. Diese Abkehr musste einen so warmherzigen Menschen wie Razi doch gewiss quälen.
»Bestimmt hat er seine Gründe«, sagte sie zweifelnd.
»Er ist ein störrisches Kamel«, gab Christopher zurück. »Genau wie dein Vater.«
Darüber musste Wynter lachen. Ohne nachzudenken, schob sie ihre Hand in Christophers Armbeuge und drückte in einer Geste fröhlicher Vertrautheit kurz die Stirn an seine Schulter. »Was machen wir nur mit ihnen?«, fragte sie und lächelte ihn an. Dann wandte auch sie sich wieder der Betriebsamkeit im Gang zu und lehnte sich vertraulich an ihn.
Zu ihrer Überraschung erstarrte Christopher und straffte die Schultern, beinahe rückte er von ihr ab. Er legte seine Hand auf ihre, wie um sie von seinem Arm zu entfernen.
Wynter hielt den Blick unverwandt nach vorn gerichtet. Diese Geste – seinen Arm zu nehmen, sich an ihn zu lehnen – war unüberlegt gewesen; nun bereute sie sie. Nicht, weil sie vor aller Augen stattgefunden hatte, sondern weil sie so offensichtlich
unerwünscht war. Sie schämte sich und war noch dazu furchtbar enttäuscht.
»Wynter«, sagte Christopher unglücklich. »Du weißt ja. Ich werde nicht …« Er stockte, suchte nach Worten, nahm einen neuen Anlauf. »Razi, er … er möchte …« Verlegen sah er sie an und verstummte. Schon wollte sie ihm ihre Hand entziehen, da entdeckte sie die widerstreitenden Empfindungen in seinem zerschundenen Gesicht, spürte die Anspannung in seinem Körper, während er sich über etwas klarzuwerden versuchte. Endlich schien er zu einem Entschluss zu kommen und drückte Wynters Hand noch fester in seine Armbeuge. »Ach, zum Teufel damit«, erklärte er bitter, wandte den Blick wieder dem Treiben zu und umschloss ihre
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