Moorehawke 01 - Schattenpfade
wunderschönen Farben und die schlichte Eleganz sprachen sie an. Die neue Mode, die sie an den Höflingen oben im Norden gesehen hatte, bestand nur aus Schleifen und Bändern, Blumen und runden Hauben, die auf dem Hinterkopf thronten; in solchen Kleidern hätte man sie dort als hoffnungslos altmodisch und unscheinbar angesehen. Und natürlich als viel zu kurz geraten . Wynter galt ohnehin als eher klein, doch die derzeitige Vorliebe für Korkabsätze und übertrieben hohe Schuhe sowohl bei Frauen als auch bei Männern würde ihren Mangel an Größe noch betonen.
Bei dem Gedanken an einen Razi, der seiner von Natur aus aberwitzigen Größe noch mehrere Zoll hinzufügte, und an den geschmeidigen Christopher, der schwankend auf Absätzen herumstakste, musste sie kichern. Sie bezweifelte, dass sich die beiden dieser Mode anschließen würden. Und erst Albi, er …
Abrupt hielt Wynter inne, so urkomisch die Vorstellung von Albi – breit, bullig und beschwingt, wie er war, zumindest früher – in hohen Schuhen auch sein mochte. Sie schluckte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Kleidern zu.
Sie brauchte nicht lang, um sich zu entscheiden, und wählte grünen Satin, der mit blassen Rosenzweigen bestickt und in den Ärmeln mit zartrosa Seide gefüttert war. Das passende
Unterkleid bedeckte ihre Arme bis zu den Handgelenken und war oben am Hals gefältelt. Man konnte sich in diesem Gewand erstaunlich gut bewegen, außerdem war es in der Abendluft angenehm kühl.
Sie erwog, etwas mit ihrem Haar anzustellen, es unter eines der mit Perlen besetzten Netze ihrer Mutter zu stecken, es rings um den Kopf zu winden oder irgendwie festzustecken, doch was Frisuren betraf, war sie wirklich ein hoffnungsloser Fall. Also löste sie es nur aus dem geflochtenen Zopf, bürstete es und ließ es in glänzenden, üppigen Wellen auf die Schultern fallen.
Was bist du? , dachte sie, als sie sich im Spiegel musterte. Sie sah aus wie eine Puppe: ihr blasses Gesicht mit den Sommersprossen inmitten eines Meers aus Haaren, die sonst immer beschäftigten Hände auf dem Grün des Kleides ruhend, die Arme in rosafarbene Seide gehüllt. Vorsichtig strich sie mit den Händen über den Rock, spürte, wie die rauen Schwielen am Stoff hängen blieben. Das vertraute Gewicht des Dolchs, den sie immer bei sich trug, fehlte, doch für eine Waffe war unter diesem festlichen Gewand kein Platz. Sie hob den Rocksaum, so dass ihre abgewetzten Filzstiefel zum Vorschein kamen, und grinste. Das bist du, sagte sie sich. Du bist abgearbeitete Hände, du bist abgewetzte Stiefel unter einem Seidenrock . Sie blickte sich selbst in die Augen. Vergiss das nicht , ermahnte sie sich.
Gerade, als sie überlegte, ihren Vater zu wecken, hörte sie Razi und Christopher klopfen. Wynter schob den Riegel zurück und trat beiseite, um sie einzulassen. Vor der Tür stand Razi, die Hand zu erneutem Klopfen erhoben; Christopher lehnte an der gegenüberliegenden Wand, als hätte er vor, draußen zu warten.
Bei ihrem Anblick fiel Razi die Kinnlade herunter, und
Christopher stieß sich unwillkürlich von der Wand ab und betrachtete sie mit verdutzt schief gelegtem Kopf.
Verunsichert betastete Wynter ihr Haar. »Stimmt etwas nicht?«
Razi schüttelte den Kopf, dann nickte er, blinzelte und murmelte etwas. Christopher begutachtete sie von Kopf bis Fuß und wieder zurück und sagte dann: »So kannst du gehen.«
Als die beiden ins Zimmer traten, ging Lorcans Tür auf, und er überraschte sie alle damit, fertig angezogen und ausgehbereit herauszukommen. Mit fragender Miene machte Razi Anstalten, auf ihn zuzugehen, doch Lorcan blitzte ihn unter halb geschlossenen Lidern an, woraufhin Razi klein beigab.
Da fiel Lorcans Blick auf seine Tochter, und er wich einen Schritt zurück. Einen Lederhandschuh halb über die Hand gezogen, verharrte er, nahm ihr Gesicht, ihr Haar, das Kleid in sich auf. »Izzy …«, flüsterte er. Dann legte sich seine Verwirrung wieder, und er lächelte traurig. »Wynter.«
Wie bleich seine Lippen sind, dachte sie erschrocken.
Doch er lächelte sie an – sein volles, breites Lächeln -, und ihr wurde leichter ums Herz. Alles würde wieder gut. Ganz bestimmt. Alles würde wieder gut.
Gefährliche Spiele
C hristopher scheint zu glauben, er käme mit zu dem Ban kett.« Wynter hielt die Stimme gesenkt und das Gesicht Razi zugewandt, während sie der dichten Menschenmenge durch die langen Gänge zum Speisesaal folgten. Hinter ihnen trottete Christopher und
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